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Nicole Staudenherz
Keine Panik vor "Kulturfleisch"!
3. Teil:
Gesundheitlich unbedenklich?
Analyse

1. Teil: https://schoepfblog.at/nicole-staudenherz-kulturfleisch/
2. Teil: https://schoepfblog.at/nicole-staudenherz-kulturfleisch-oder-leiche-2-teil-wird-der-bauernstand-ruiniert-analyse/

Ob Kulturfleisch sicher für den menschlichen Verzehr ist, hängt davon ab, womit wir es vergleichen. Einen großen Pluspunkt können Zellkulturen in einer kontrollierten Produktionsumgebung jedenfalls vorweisen, nämlich die Abwesenheit von Atemwegen und Verdauungstrakten und allen darin lebenden Mikroorganismen.

Diese sind bei der industriellen Haltung und Tötung von Tieren eine permanente Gefahrenquelle. In Tierfabriken sind Schweine, Hühner und andere Tiere häufig gezwungen, auf ihren eigenen Exkrementen zu leben. Auch im Schlachtprozess lässt es sich nicht vermeiden, dass das Fleisch mit den Fäkalien der Tiere in Berührung kommt und in der Folge mit Krankheitserregern wie E. Coli oder Salmonellen kontaminiert wird.

Über die Atemwege tausender in Massenställen zusammengepferchter Tiere wiederum übertragen sich gefährliche Viren, wie etwa Vogel- oder Schweinegrippe. Fachleute meinen dazu, es sei nicht die Frage, ob überhaupt, sondern wann solche Viren das nächste Mal nicht nur Millionen Tiere umbringen, sondern auch für uns Menschen gefährlich werden.

Natürlich gibt es zu Kulturfleisch, das in den meisten Ländern der Welt noch nicht zugelassen ist, keine Studien über mögliche Folgen eines langfristigen Verzehrs. Zu überprüfen ist sicherlich auch, ob verschiedene Hilfs- und Zusatzstoffe im Zuge des Herstellungsvorgangs zu Allergien oder anderen Gesundheitsproblemen führen können.

In Europa müsste jeder potentielle Hersteller von Kulturfleisch jedenfalls im Rahmen der Verordnung über neuartige Lebensmittel (Novel Foods) ein Zulassungsverfahren durchlaufen, bevor sein Produkt überhaupt produziert oder verkauft werden darf. Dieses Regelwerk umfasst explizit auch Zell- und Gewebekulturen von Tieren.

Fachleute von internationalen Organisationen argumentieren dahingehend, dass viele mögliche Gefahren bereits bekannt sind und gleichermaßen auch bei konventionell hergestellten Lebensmitteln bestehen. 

Beispielsweise kann eine mikrobielle Kontamination in jeder Phase des Herstellungsprozesses auftreten. Bekannte und bewährte Kontrollmaßnahmen und Hygienepraktiken sowie das HACCP-Konzept (Hazard Identification and Critical Control Points) sind nach Ansicht der Fachleute anwendbar, um die Lebensmittelsicherheit für zellbasierte Lebensmittel zu gewährleisten.

Ein Blick über den Tellerrand in Form einer breiteren Nutzen-Risiko-Abschätzung ist auf jeden Fall angebracht. Denn es ist auch mit zu bedenken, welche katastrophalen ökologischen und gesundheitlichen Folgen ein Festhalten an der konventionellen Fleischproduktion in den aktuellen – oder schlimmer: in weiter steigenden – Mengen hätte.

Wie es der bekannte Ernährungsmediziner David Katz auf den Punkt bringt: Es gibt keine gesunden Leute auf einem ruinierten Planeten.


Zu früh für Abwehrreflexe

Es liegt auf der Hand, dass die einschlägigen Firmen ihre Kulturfleisch-Produkte so schnell wie möglich auf den Markt bringen wollen und sich deshalb extrem optimistisch zeigen. Fakt ist aber, dass es sich aus heutiger Sicht kaum prognostizieren lässt, wann nennenswerte Mengen an kultiviertem Fleisch im Handel oder in der Gastronomie erhältlich sein werden.

Eine aktuelle Studie zu den Prognosen von einschlägigen Fachleuten zeichnet jedenfalls ein äußerst bescheidenes Bild: Die Wahrscheinlichkeit, dass bis 2051 mehr als 100.000 Tonnen Kulturfleisch pro Jahr auf dem Weltmarkt gehandelt werden, schätzen die Experten gerade einmal auf 46 Prozent. 

Zum Vergleich: Derzeit werden weltweit über 350 Millionen Tonnen Fleisch durch Tötung von Tieren produziert. Wollen wir diese Zahl des Grauens im Sinne der Tiere senken und die ökologischen Schäden der Fleischindustrie eindämmen, brauchen wir dringend Lösungen, die hier und jetzt schon verfügbar und praktikabel sind.

Deshalb werden wir um eine Ernährungswende in Richtung pflanzenbasierter Kostformen nicht herumkommen. Der angenehme Nebeneffekt: gigantische Kostenersparnisse. So kam eine kürzlich publizierte Wirtschaftsanalyse zu dem Schluss, dass eine Reform des ineffizienten und klimaschädlichen Ernährungssystems versteckte Gesundheits- und Klimafolgekosten in Höhe von bis zu 10 Billionen US-Dollar pro Jahr einsparen könnte.

Dass sich verschiedene Lobbys öffentlichkeitswirksam gegen eine noch nicht serienreife Technologie empören, statt konstruktive Beiträge zum Umbau des Ernährungssystems zu leisten, ist zeitlich fehlplatziert und absurd.

Es war aber zu erwarten, dass Kulturfleisch genauso wie andere Innovationen in frühen Entwicklungsphasen auf Sorge und Skepsis stößt. Die Gesellschaft macht sich damit vertraut und im Zuge dessen werden Kontroversen ausgetragen. Zugleich werden mögliche Risiken abgewogen und Lösungen für offene Fragen gesucht. Das ist gut so! 

Sobald alle Zweifel ausgeräumt sind, werden die Menschen ihre Neophobie überwinden und die neue Technologie in den Alltag integrieren, soweit es dem eigenen Gusto und Geldbörsel entspricht.

In diesem Sinne könnte Kulturfleisch eine Brückentechnologie sein, vor allem für jene Zeitgenossen, die trotz sinnvoller Alternativen partout nicht auf Fleisch verzichten wollen oder können.

Pragmatisch betrachtet kann das Fleisch aus Zellkultur in den nächsten Jahrzehnten ein ergänzender Puzzlestein zur Lösung der oben beschriebenen Probleme sein, vor allem angesichts dessen, dass der Fleischhunger der Menschheit (noch) im Wachsen begriffen ist, gegen jede Vernunft und allen planetaren Grenzen zum Trotz.

Was es definitiv nicht ist: ein schneller Technologie-Fix, mit dessen Hilfe wir uns vor überfälligen Veränderungen in unseren Konsummustern drücken können.


Bücher:

Cachelin, Joël Luc (2023): Veganomics: Die vegane Revolution und ihre Zukunftsmärkte.

Shapiro, Paul (2018): Clean Meat. How Growing Meat Without Animals Will Revolutionize Dinner and the World

Vandenbosch, Michel / Lymbery, Philip (Hrsg.) (2023): Cultivated Meat to Secure our Future. Hope for Animals, Food Security, and the Environment.


Sonstige Quellen:

„Agrar-Lobby setzt sich durch: Italien will Zell-Fleisch verbieten“, vgt.at/presse/news/2023/news20230405mn.php

„Amplifying farmers’ voices: farming perspectives on alternative proteins and a just transition“, proveg.org/report/amplifying-farmers-voices

„Animal-free, non-recombinant albumin and transferrin for cultivated meat“, gfi.org/solutions/non-recombinant-homologues-albumin-transferrin

„Appeal to Nature Fallacy“, practicalpie.com/appeal-to-nature-fallacy

„Clean Meat – ist Laborfleisch die Zukunft?“, verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/lebensmittelproduktion/clean-meat-ist-laborfleisch-die-zukunft-65071

„Cultivated meat production costs could fall significantly: Bovine muscle engineered to produce their own growth signals“, phys.org/news/2024-01-cultivated-meat-production-fall-significantly.html

„Global perspectives on food safety aspects of cell-based food production and precision fermentation“, Vortrag von Masami Takeuchi, EFSA’s Scientific Colloquium 27 “Cell culture-derived foods and food ingredients”, youtube.com/watch?v=H8swktXli4E

„Fetal Bovine Serum Market Size & Trends“, grandviewresearch.com/industry-analysis/fetal-bovine-serum-market-report

„FKS-frei – Nährmedien ohne fetales Kälberserum“, aerzte-gegen-tierversuche.de/de/fuer-experten/alternativen-zu-tierversuchen/infos/fks-frei-naehrmedien-ohne-fetales-kaelberserum

„Food safety aspects of cell-based food“, who.int/publications/i/item/9789240070943

„Forschungsteam züchtet Fleisch im Reiskorn“, derstandard.at/story/3000000207393/forschungsteam-zuechtet-fleisch-im-reiskorn

„Global meat production“, ourworldindata.org/grapher/global-meat-production
„How many animals are factory-farmed?“, ourworldindata.org/how-many-animals-are-factory-farmed

„Gut essen und trinken – DGE stellt neue lebensmittelbezogene Ernährungsempfehlungen für Deutschland vor“, dge.de/presse/meldungen/2024/gut-essen-und-trinken-dge-stellt-neue-lebensmittelbezogene-ernaehrungsempfehlungen-fuer-deutschland-vor

„Kulturfleisch und Klimawandel – Wie vielversprechend ist im Labor gezüchtetes Fleisch wirklich?“, kulturfleisch.de/2023/08/kulturfleisch-und-klimawandel-wie-vielversprechend-ist-im-labor-gezuechtetes-fleisch-wirklich

„Labor oder Weide“, cash.at/handel/news/coverstory-2-2024-labor-oder-weide-30258

„‚Less meat, less heat‘: Aktuelle Studie zeigt konkrete Auswirkungen einer Reduktion des Fleischkonsums in Österreich“, vier-pfoten.at/unsere-geschichten/pressemitteilungen/2022/oktober/auswirkungen-einer-reduktion-des-fleischkonsums

„Nach Totschnig-Kritik: VGT sieht in Fleisch aus Zellkulturen größte Hoffnung im Tierschutz“, vgt.at/presse/news/2024/news20240124mn.php

„Neuartige Lebensmittel“, ages.at/mensch/ernaehrung-lebensmittel/lebensmittelinformationen/neuartige-lebensmittel

„New studies show cultivated meat can have massive environmental benefits and be cost-competitive by 2030“, gfi.org/blog/cultivated-meat-lca-tea

„There are no healthy people on a ruined planet“, nhregister.com/opinion/article/There-are-no-healthy-people-on-a-ruined-planet-13623541.php

„These Italian Researchers Are Developing Chicken Meat From a Feather“, vegconomist.com/science/italian-researchers-chicken-meat-feather

„Will Cultured Meat Be Widely Available By 2050?“, faunalytics.org/will-cultured-meat-be-widely-available-by-2050

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Nicole Staudenherz

Nicole Staudenherz, geb. 1976 in Innsbruck, verheiratet, Betreuerin autistischer Kinder, Pflegerin bei den Sozialen Diensten Innsbruck, Pflegehelferin bei Tirol Kliniken, Diplom. Gesundheits- und Krankenschwester Tirol Kliniken, LKH Natters und Hochzirl, inzwischen hauptberufliche Kampagnenleiterin des Vereins gegen Tierfabriken (VGT).

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Rainer Haselberger

    Kompliment an Frau Staudenherz für ihre Argumentationslinie!

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