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Nicole Staudenherz
Tierkinder auf Todesfahrt
Skandalöse Zustände bei Kälbertransporten
Analyse

Dass Kälber leidensfähige Lebewesen sind, scheint in der hiesigen Milchwirtschaft eine äußerst marginale Rolle zu spielen. Anders ist es nicht zu erklären, dass im (schein)heiligen Land Tirol Woche für Woche die LKWs losrollen, um diese zerbrechlichen und liebenswerten Tierkinder in italienische Horror-Mastfabriken zu verfrachten. Oder gleich zum 1000 Kilometer entfernten Schlachthof.


Nur wenige Wochen alt waren die beiden Milchkälber Anni und Marie, als sie bei einer Sammelstelle im Unterland in den LKW verladen wurden. Beide Tiere stammen von idyllischen Tiroler Höfen, wo Kühe reichlich Weidegang haben und den Sommer auf der Alm verbringen. Ein solches Leben sollte Anni und Marie jedoch nie vergönnt sein. Stattdessen konnte eine VGT-Recherche belegen, dass Anni und Marie innerhalb einer verdächtig kurzen Zeitspanne von etwa zwei Tagen auf einem Schlachthof bei Neapel landeten, wo sie sofort getötet wurden.

Leider ist es nach geltendem Recht völlig legal, noch von der Muttermilch abhängige Säugetiere bis zu 19 Stunden lang zu transportieren. Die Kälber während des Transports altersgerecht zu versorgen ist ohne längere Fahrtunterbrechung aber kaum möglich. Somit kann davon ausgegangen werden, dass die Tiere während der Fahrt Hunger und Durst leiden. Auch die sommerliche Hitze kann den Tieren zu schaffen machen. Denn im Laderaum sind Temperaturen in Höhe von bis zu 35° Celsius erlaubt. Die Wohlfühltemperatur für Kälber liegt leider etwa zehn Grad niedriger.


Gesetze biegen, bis sie brechen?

Was das traurige Los von Anni und Marie so brisant macht, ist eine Übertretung dieser ohnehin schon herzlosen Regelungen. Denn gemäß EU-Tiertransportverordnung (TTVO) wäre den beiden Kälbern nach der maximalen Beförderungszeit von 19 Stunden eine Pause von mindestens 24 Stunden einzuräumen, um sie zu füttern und zu tränken. Eine Fahrt zu einem süditalienischen Schlachthof wäre unter Berücksichtigung einer solchen Ruhephase in zwei Tagen kaum durchführbar. Trotzdem fand sie statt. Es darf bezweifelt werden, dass es sich hierbei um einen Einzelfall handelt.

Auch sonst scheint man sich die Gesetze in einer Weise zu richten, wie es ins länderübergreifende (Geschäfts-)Konzept passt: So schlossen Österreich und Italien im Jahr 2019 ein Abkommen, um fragwürdige Praktiken bei Tiertransporten zu legalisieren. Nach Einschätzung von Fachleuten ist dieses Abkommen EU-rechtswidrig und läuft dem Tierwohl zuwider.

Laut TTVO beginnt ein Transport mit dem Verladen des ersten Tieres am Versandort und endet mit dem Entladen des letzten am Bestimmungsort. Im österreichisch-italienischen Abkommen wird aber zwischen einem vorläufigen und endgültigen Bestimmungsort unterschieden. Die TTVO sieht eine solche Differenzierung nicht vor: Sie definiert lediglich den Bestimmungsort. Dabei handelt es sich um den Ort, an dem ein Tier von einem Transportmittel entladen wird und entweder mindestens 48 Stunden verbleibt, bevor es weiter transportiert oder gleich geschlachtet wird.


Grenzwertige Wortklauberei zulasten der Tiere

Italienische Sammelstellen wie zum Beispiel ein Standort in Südtirol werden durch das Abkommen zum vorläufigen Bestimmungsort erklärt. Nur wenn die Kälber dort mindestens 48 Stunden verbleiben, ist die Sammelstelle tatsächlich als Bestimmungsort zu qualifizieren. Andernfalls bilden der Transport dorthin, der dortige Aufenthalt und der anschließende Weitertransport, einen zusammenhängenden Transportvorgang, bei dem die Maximaldauer der Beförderung von 19 Stunden (9 Stunden + 1 Stunde Pause + 9 Stunden) eingehalten werden muss. 

Dass die Tiere an dieser Sammelstelle regelmäßig umgeladen und für neue Transporte umgruppiert werden, widerspricht ebenfalls der TTVO, da diese eine Neuzusammenstellung und eine Umladung auf ein anderes Fahrzeug nicht vorsieht. Somit steht der Verdacht des illegalen Sammelstellen-Hoppings im Raum.

Diverse Aufdeckungen des VGT zeigen, dass die Kälber weniger als 48 Stunden an der Südtiroler Sammelstelle verbleiben und dann weiter transportiert werden, wodurch die höchst zulässige Dauer für Tiertransporte weit überschritten wird. Einige Kälber sind dann möglicherweise nicht die maximal erlaubten 19 Stunden unterwegs, sondern bis zu mehrere Tage. 

Diese Praxis könnte für die Kälber eine erhebliche Verlängerung und Verschlimmerung der ihnen durch den Transport entstehenden Qualen bedeuten. Außerdem liegt auch hier ein Verstoß gegen die TTVO vor, die bestimmt, dass Transporte aus Tierschutzgründen so kurz wie möglich zu halten sind.

Einem juristischen Fachartikel zufolge wird durch das besagte Abkommen in realiter europäisches Tierschutzrecht ausgehöhlt und dem Schutzzweck der TTVO zuwidergehandelt. Durch das gegenständliche Abkommen werden essentielle Bestimmungen der TTVO zum Nachteil der Tiere verletzt.


Bestimmungsort: Hölle

Gibt es etwas, das für ein Tierkind noch schlimmer ist als eine zweitägige Fahrt zur eigenen Tötungsstätte? Ja, leider: italienische Masthallen. Dort landeten Nora und Toni, zwei Milchkälber aus dem Salzburger Land.

Hätten Kälber eine Religion, würden sie Orte wie diese zweifellos als Hölle bezeichnen. Doch was haben die Tierkinder verbrochen, dass sie dort ihr ganzes leidvolles Leben verbringen müssen? In beengten, käfigartigen Einzel- oder Gruppenbuchten vegetieren sie vor sich hin, oft ohne ausreichendes Tageslicht und ohne jedes Beschäftigungsmaterial. Statt einer weichen Liegefläche müssen die Tiere mit harten, verdreckten Betonspaltenböden vorlieb nehmen. Ein Leben in, auf und über den eigenen Exkrementen. Bedenkt man, dass Rinder mit ihrer sensiblen Nase Gerüche auf Entfernungen von bis zu zehn Kilometern wahrnehmen können, drängt sich bei der Betrachtung dieser Haltungsform unweigerlich der Begriff Folter auf.

VGT-Kampaignerin Isabell Eckl bringt die Problematik auf den Punkt:

Obwohl der VGT seit Jahren diese unfassbaren Tierquälereien ans Licht bringt, werden die Babys von Milchkühen nach wie vor ins Ausland verscherbelt, um sie zu mästen oder gleich töten zu lassen. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist für ein Verbot von Kälbertransporten.

So zeigt eine aktuelle Umfrage aus Österreich, dass 69 Prozent der Befragten ein solches Verbot unterstützen und weitere 21 Prozent strengere gesetzliche Regelungen wünschen. 90 Prozent der Bevölkerung wollen also Verbesserungen im Sinne der Tiere sehen.

Ähnlich sieht es auf EU-Ebene aus: Einer kürzlich publizierten Eurobarometer-Umfrage zufolge sind 83 Prozent der Befragten für eine Verkürzung der Transportzeiten bei Tiertransporten. Ein klares Signal an die Politik, endlich zu handeln!


„System Milch“: Reformen überfällig

Lösungen für die Problematik gäbe es viele. Zunächst wäre eine Abkehr vom alpenländisch-kurzsichtigen Geschäftsmodell der Milch-Überproduktion anzustreben. Österreich hat bei der Milch nämlich einen Selbstversorgungsgrad von 177 Prozent. Es wird also viel mehr erzeugt, als im Inland benötigt wird. Der Rest geht in den Export. Big Business auf dem Rücken der Tiere? 

Diese Praktiken sind dringend zu hinterfragen und durch andere, ethisch faire Unternehmungen zu ersetzen. Auch angesichts der äußerst ungünstigen Klima- und Ökobilanz von Tiermilchprodukten ist ein solcher Wandel Gebot der Stunde.

Zudem ist der Eigenbedarf nicht in Stein gemeißelt. Wer allen Ernstes behauptet, die Bevölkerung einer mitteleuropäischen Überflussgesellschaft wäre ernährungsphysiologisch zwingend auf die Muttermilch einer anderen Spezies angewiesen, hat entweder einen ideologischen Bias oder sollte sein Wissen dringend auf den neuesten Stand bringen. 

Kalzium und Proteine finden sich reichlich auch in vollwertigen pflanzlichen Lebensmitteln wie zum Beispiel in dunkelgrünen Blattgemüsen, Hülsenfrüchten und Nüssen. Mit Kalzium und Vitamin D angereicherte Sojadrinks (aus heimischem oder europäischem Soja, das im Unterschied zum Rinder-Kraftfutter ohne Gentechnik auskommt!) ergeben nicht nur einen überraschend cremigen Schaum am Cappuccino, sondern haben auch ein vorteilhaftes Fettsäureprofil und einen unschlagbar schlanken CO2-Fußabdruck.


Gesetze stärken und Mitgefühl zeigen

Und last, but not least wäre es denkmöglich, die Tiertransporte ins Ausland durch strengere Gesetze und gezielte Subventionen zu unterbinden. Vereinzelt geschieht das schon, beispielsweise mithilfe von Prämien für Landwirte, die ihre Kälber im Inland aufziehen, oder durch Vermarktungsprogramme für österreichisches Kalbfleisch (Kalb rosé).

Momentan reichen diese Maßnahmen jedoch bei weitem noch nicht aus. Das zeigen die niederschmetternden Zahlen aus dem TRACES-Bericht: Allein im Jahr 2022 wurden mehr als 73.000 Rinder lebend aus Österreich in andere EU-Staaten exportiert. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei einem erheblichen Anteil dieser Rinder um aussortierte Milchkälber handelt.

Zusätzlich landeten über 11.000 Mutterkühe und Kalbinnen als Zuchttiere in Drittstaaten, darunter zum Beispiel über 4.600 Tiere in Algerien, etwa 2.700 in der Türkei und jeweils circa 1.000 in Aserbaidschan und Usbekistan. Diese Länder gehören – gelinde gesagt – nicht gerade zur Avantgarde in Sachen Tierschutz. Im internationalen Ranking der Organisation World Animal Protection erhalten sie ziemlich schlechte Noten.

Das stärkste Argument für eine Systemreform ist immer die Würde des empfindungsfähigen Lebewesens. Was gibt uns Menschen das Recht, Tiermütter zwangsweise zu schwängern, ihnen ihr Neugeborenes wenige Tage nach der Geburt zu entreißen, diese Kinder zu töten und die Mutter schlussendlich auch, sobald die Milchleistung nachlässt? Ein Vorgehen, das mit unserem Selbstbild als kluge, entwickelte, zivilisierte Spezies kaum vereinbar ist.

Von dem Gedanken, in der schönen Alpenrepublik wäre in Sachen Tierschutz alles tipptopp, sollten wir uns angesichts der oben beschriebenen Zustände jedenfalls schleunigst verabschieden.


Quellen:

 api.worldanimalprotection.org
 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en%E2%80%8B%E2%80%8B%E2%80%8B/ip_23_4951
 eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32005R0001
 gesunderinder.unibe.ch/allgemeines/stallklima/temperatur
 info.bml.gv.at/themen/lebensmittel/lebensmittel-in-oesterreich/selbstversorgungsgrad.html
 media.4-paws.org/f/c/c/4/fcc4bd692bad7e9fec91acfb63643cc1db193b91/Zusammenfassung-VIER-PFOTEN-Online-Umfrage-Tiertransporte.pdf
 „4-5 Wochen alte Tiroler Milchkälber nach 2-tägigem Tiertransport in Süditalien getötet“, vgt.at/presse/news/2023/news20230823mn.php
 verbrauchergesundheit.gv.at/handel_export/Publikationen/traces.html
 „Die Sinne der Rinder“, vgt.at/presse/news/2020/news20201222ih_2.php
 „Jurist:innen bestätigen: Kälbertransporte illegal“, vgt.at/presse/news/2022/news20220831mn_2.php
 „Tiertransporte: illegal“, vgt.at/presse/news/2022/news20221114mn_3.php
 Patricia Patsch / Barbara Felde / Alexander Rabitsch (2022): „Widerrechtlichkeit des bilateralen Verwaltungsübereinkommens zum Transport von Kälbern zwischen Italien und Österreich“, tirup.at/download/pdf/7589327

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Nicole Staudenherz

Nicole Staudenherz, geb. 1976 in Innsbruck, verheiratet, Betreuerin autistischer Kinder, Pflegerin bei den Sozialen Diensten Innsbruck, Pflegehelferin bei Tirol Kliniken, Diplom. Gesundheits- und Krankenschwester Tirol Kliniken, LKH Natters und Hochzirl, inzwischen hauptberufliche Kampagnenleiterin des Vereins gegen Tierfabriken (VGT).

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