Nicole Staudenherz
Keine Panik vor "Kulturfleisch"!
1. Teil:
Die Antipathien unter dem Mikroskop
Analyse
Tirol, ein lauer Frühlingsabend irgendwann in den 2030er Jahren. Die Gemüsekiste für die Grillparty wurde schon frei Haus geliefert. Jetzt fehlt nur noch das Fleisch. Im Kühlregal gibt es einiges zur Auswahl, von Marchfelder Erbsen-Steak über Austernpilz-Spieße bis hin zu Schlachtfleisch aus verschiedenen Haltungsformen.
Zwei Produkte fallen ins Auge, zum einen die 3D-gedruckten Kulturfleisch-Koteletts aus der Zillertaler Fleischbrauerei und zum anderen die Schweineteile aus einer der letzten noch betriebenen steirischen Vollspalten-Tierfabriken (mit Haltungskennzeichnung und realistischem Foto aus dem Massenstall!).
Die Zellkultur-Variante kostet exakt gleich viel wie jene von Tieren aus industrieller Haltung. Ein Sticker auf der Verpackung weist zudem auf die vorteilhafte Ökobilanz und das optimierte Fettsäurenprofil hin. Viele werden da neugierig. Die Mehrheit greift aber zu Veggie.
Wer in Zukunft überhaupt noch Fleisch essen möchte, hat in diesem Szenario selbstverständlich die freie Wahl! Durch maximale Transparenz in der Lieferkette und durchgängige Herkunfts- und Haltungskennzeichnung können die Konsumenten selbst entscheiden, was sie verzehren wollen: Pflanze oder Pilz oder Zellkultur. Oder totes Tier.
Schlachtfleisch steht weiterhin zum Verkauf, doch auch den Unbelesensten ist mittlerweile klar: Tiernutzung bedeutet immer Leid und Schmerz in unterschiedlichem Ausmaß, dazu Ressourcenverschwendung, Naturzerstörung und nie gänzlich vermeidbare Kontamination mit diversen Hochrisiko-Pathogenen.
Kulturfleisch auf der anderen Seite trägt zur Lösung gravierender ethischer Probleme bei und sorgt für drastisch reduzierten Ressourcen- und Flächenverbrauch sowie besseren Schutz vor Keimbelastung.
Würden menschliche Entscheidungen auf einer gesunden Mischung aus Vernunft und Mitgefühl basieren, dann könnte der Text an dieser Stelle enden. Das Ernährungssystem der Zukunft: Tötungsfreies Fleisch löst Schlachtfleisch größtenteils ab. Beides wird zum selten konsumierten Luxusgut.
Unterdessen stellt sich die Landwirtschaft mit Hilfe sinnvoll verteilter Subventionen schrittweise auf ökologischen Ackerbau, Streuobstwiesen, Beerengärten, Pilzfarmen und regionale Fleischbrauereien um. Gigantische Flächen werden frei (in Österreich bis zu 1,7 Millionen Hektar!) und könnten der Natur zurückgegeben werden.
Sonnenuntergang überm Nationalpark.
Wenn da nicht die Tierindustrie-Lobbys wären. Unnatürlich!, tönt es schon in den frühen 2020er Jahren aus den einschlägigen Standesvertretungen und Ministerien, noch bevor Fleisch aus Zellkulturen überhaupt die Serienreife erreicht hat, geschweige denn eine Zulassung oder gar die Supermarktregale. Traditionen bewahren, Landwirtschaft retten!, skandieren die Funktionäre. Viel zu viele Medien drucken derlei Aussagen artig ab, ohne die ziemlich windschiefe Argumentation zu hinterfragen.
Dabei wäre das gar nicht so schwer. Auf den ersten Blick erkennbar ist der Appeal-to-Nature -Trugschluss, der natürlich mit gut gleichsetzt und damit zuverlässig für kolossale Themenverfehlungen sorgt.
Denn die Natürlichkeit einer Sache sagt – vor allem im Kontext menschlicher Gesellschaften – wenig bis nichts über deren Güte aus. Es gibt vieles in der Natur, das unserem Wohlbefinden äußerst abträglich ist: Tollkirschen, Knollenblätterpilze, Borrelien. Felsstürze, Erdbeben, Vulkanausbrüche. Und es gibt viel Künstlich-Menschgemachtes, das die allermeisten von uns sicher nicht missen wollen: Wohnungen, Heizungen, medizinische Behandlungen. Brillen, Bücher, soziale Gerechtigkeit.
Zurück zur Natur – wie naiv! Möchten wir im Jahr 2024 wirklich noch hungrig, kurzsichtig und mit Fellen bekleidet in einer nasskalten Höhle sitzen und uns mit dem halbwüchsigen Rambo in der Nachbarhöhle um die letzte nicht-giftige Beere raufen?
Eine Überspitzung, zugegebenermaßen. Doch auch wenn wir die wenig zielführende Aussage Natürlich ist gleich gut einen Moment lang ernst nehmen, wird die gedankliche Sackgasse der Anti-Kulturfleisch-Fraktion offensichtlich.
Wie natürlich ist Fleisch?
Denn es ist kein Geheimnis, wie naturfern die Bedingungen sind, unter denen heutzutage Schlachtfleisch und andere Tierprodukte hergestellt werden. Zunächst gibt es wohl nichts Unnatürlicheres als die gängigen Qualzuchten, mit denen empfindungsfähige Lebewesen radikal versachlicht und genetisch zu einem Leben voller Schmerz verurteilt werden: Turbokühe mit riesigen Eutern. Hühner, die aufgrund ihrer schweren Brustmuskeln vornüber kippen. Mutterschweine, die mehr Ferkel gebären, als sie säugen können.
Und dann noch das Arsenal an haarsträubenden Apparaturen, Vorrichtungen und Ingredienzien: künstliche Befruchtung, künstliche Brut, künstliches Licht statt Sonnenschein. Vollspaltenböden, Käfige, Antibiotika. Elektrozangen, Bolzenschussgeräte, Küken-Ersticken mit CO2.
Von den etwa 100 Milliarden (!) Tieren, die weltweit jedes Jahr für Nahrungszwecke getötet werden, fristen rund drei Viertel ein trauriges Dasein in industriellen Haltungssystemen, in denen die ganze menschgemachte Werkzeugkiste des Grauens zum Einsatz kommt, von der Zeugung bis zum gewaltsamen Tod.
Von Tradition kann in diesem Kontext ohnedies keine Rede sein. Denn Tierfabriken sind keine altehrwürdige Einrichtung aus der Antike oder Renaissance, sondern eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, die aus einer perversen Verquickung von Profitgier, falsch gelenkten Subventionen und ignorantem Überkonsum entstand.
Im Vergleich dazu scheint der Herstellungsprozess von Kulturfleisch relativ harmlos: Einem Tier wird per Biopsie Gewebe entnommen (bei einem Huhn könnte sogar eine Feder ausreichen!). Die daraus gewonnenen Zellen werden in einem Nährmedium vermehrt, wenig später geerntet und schließlich in der gewünschten Form weiterverarbeitet.
Die Fleischfabrik der Zukunft ist also kein Labor, sondern mehr eine Brauerei mit großen Stahltanks, in denen das Produkt friedlich und gewaltfrei heranwächst.
Traditionen anders denken
Wer trotzdem auf das Natürlich-Traditionelle besteht, braucht weder Kulturfleisch noch Schlachtfleisch zu verzehren. Schon gar nicht in den aktuellen Durchschnittsmengen von fast 60 Kilo pro Kopf und Jahr, wie es sich die Alpenrepublik in den fetten Jahren der Wirtschaftswunderzeit angewöhnt hat.
So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) in ihren aktualisierten Richtlinien eine Ernährungsform, die mindestens zu drei Vierteln pflanzlich ist. Es ist zu erwarten, dass die Österreichische Gesellschaft für Ernährung (ÖGE) demnächst nachziehen und den gesundheitlichen und ökologischen Wert pflanzenbetonter Ernährungsweisen betonen wird.
Somit würde sich als protein- und eisenreicher Fleischersatz für traditionsbewusste, naturliebende Menschen zum Beispiel ein würziger Eintopf aus heimischen Bio-Linsen anbieten, dazu Vollkornbrot und erntefrisches Gemüse vom Bauernmarkt.
Die einzige Substanz, die natürlicherweise nur in Fleisch und Co. vorkommt und vom menschlichen Körper nicht synthetisiert werden kann, ist von Bakterien im Tierkörper erzeugtes Vitamin B12.
2. Teil in einer Woche: Bauernfamilien versus Großkonzerne?
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