Alois Schöpf
Wir wollen modern sein!
Verlust der Tradition und des Publikums
durch fragwürdige musiksoziologische Selbstverortung
3. Teil
Essay

1. Teil
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2. Teil:
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Im zweiten Teil der vorliegenden Überlegungen, wie es anzustellen sei, Konzertprogramme so zu gestalten, dass aufgrund allzu großen Ehrgeizes von Dirigenten und Musikern nicht am Publikum vorbei musiziert wird, sondern dessen berechtigte Erwartungen erfüllt werden, wurden drei Konzerte von weltbekannten Blasorchestern im Rahmen der Innsbrucker Promenadenkonzerte 2022 analysiert. Damit sollten an konkreten Beispielen Tauglichkeit und Problematik von gelungenen bzw. misslungenen Programmdramaturgien aufgezeigt werden.


1.
Wie das Konzert der Sächsischen Bläserphilharmonie bewies, ist mit einem Rückgriff auf Transkriptionen klassischer Werke aus dem Bereich populärer Kunst- und Unterhaltungsmusik sehr wohl ein das Publikum beglückendes Programm zu gestalten. Voraussetzung ist allerdings ein leistungsfähiges Orchester und ein Dirigent, der vor der schwierigen Aufgabe steht, Werke, die vielen im Publikum bekannt sind, aufgrund seiner stilistischen Kenntnisse und durch die Wahl geeigneter Transkriptionen so zu inszenieren, dass er gegenüber übermächtiger, von Tonträgern jederzeit abrufbarer Konkurrenz bestehen kann.

Der Vorteil von Konzerten, die auf Transkriptionen klassischer Werke aufbauen, besteht andererseits darin, dass hinsichtlich der Qualität der Kompositionen keinerlei Zweifel bestehen. In der Regel sind es bewährte Meisterwerke. Absolut notwendig jedoch, um die Gefahr von Langeweile zu verhindern, ist dennoch ein formal reichhaltiges Angebot, das von Ouvertüre, Marsch, Polka, Polka Mazur, Walzer, Galopp, Gesang bis hin zu Potpourris reicht.

Wer glaubt, darauf verzichten zu können, endet zuletzt in der distinktionsgeladenen Ödnis der alljährlichen Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker, deren Dramaturgie in unverschämter Weise nicht auf die Beglückung des mit seinen Steuermitteln das Orchester erhaltenden Publikums ausgerichtet ist, sondern auf die Produktion und damit die finanziellen Erlöse der neuesten CD, ein Format, das grundsätzlich Uniformität und nicht Diversität voraussetzt. Das Bedürfnis, während der Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker friedlich einzuschlafen, resultiert daher in den allermeisten Fällen nicht aus Schlafmangel aufgrund von Silvesterfeiern, sondern aus der redundanten Abfolge von Walzern und Polkas der Musikfabrik Strauß.

Wie hingegen mit Erfolg Abwechslung und Spannung erzeugt werden können, zeigt der Chefdirigent der Bläserphilharmonie Salzburg Hansjörg Angerer mit seinem inzwischen auch von ORF III übertragenen Dreikönigskonzert aus dem Großen Festspielhaus in Salzburg, dessen Dramaturgie stets eine Brücke von der altösterreichischen Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts zur Unterhaltungsmusik anderer Länder, etwa Italiens, Russlands oder Englands, zuweilen aber auch in die Moderne schlägt und damit äußerst kurzweilig ausfällt.


2.
Die dekadente Abneigung der Tiroler gegen ihre erfolgreiche Tourismuswirtschaft, deren Infrastrukturen sie ungefragt genießen, schlägt sich auch in den Programmen der heimischen Musikkapellen bzw. Blasorchester nieder. So wird es gemeinhin als Zumutung empfunden, wenn Gäste Konzerte nicht deshalb besuchen, weil sie die gerade aktuelle, globalisierte Pop- oder Schlagermusik, wie sie auch bei Ihnen zu Hause erklingt, in meist dilettantischer Aufführungsweise hören wollen, sondern weil sie sich für die spezifische Klanglandschaft ihres Gastlandes interessieren. Viele von ihnen sind nämlich gebildet genug, um zu wissen, dass Österreich auf eine bedeutende Musikgeschichte und im speziellen Tirol auf ein großes volksmusikalisches Erbe verweisen kann.

Leider riskiert ein Kapellmeister, der diese touristischen Erwartungen zu erfüllen versucht und daher Volksmusik oder volksmusikalische Potpourris in seine Programme aufnimmt, das Ende seiner Beliebtheit, denn seine Schützlinge wollen, wie bereits mehrfach betont, modern sein, modern erscheinen und daher sogenannte moderne Werke aufführen, was immer an Schrott sie darunter verstehen.

Die United States Marine Band The Presidents Own erwies sich in diesem Zusammenhang bei der Präsentation der nationalen Identität der USA, die sie in Europa zu vertreten hatte, als vorbildlich, indem sie, klug unterbrochen von Werken der europäischen Kunstmusik aus verschiedenen Genres und Zeitepochen, Werke von amerikanischen Komponisten präsentierte, die allerdings, in Serie aufgeführt, aufgrund zu gleichförmiger Tonsprache und teilweise auch aufgrund mangelnder kompositorischer Qualität einen ähnlichen Effekt erzielt hätten, wie es bei dem bereits erwähnten Konzert der belgischen Gidsen geschah.

Statt sogenannter Originalwerke ein wenig mehr schlichte Unterhaltungsmusik, wie sie zuletzt bei den Zugaben durch die unvergleichliche Wiedergabe des amerikanischen Nationalmarsches Stars and Stripes das Publikum zu Begeisterungsstürmen veranlasste, hätte auch hier nicht geschadet, zumal gerade die Vereinigten Staaten durch den Jazz, insbesondere durch den Swing, weltbekannte Film- und Musical-Musik einen großartigen Beitrag zur musikalischen Weltliteratur geleistet haben.

Dennoch ist insgesamt dem Orchester durch eine kluge Dramaturgie, viele formale Elemente, eine herausragende und überraschende Moderation und durch Gesang ein Programm gelungen, das zwischen höchsten künstlerischen Ansprüchen und Verwöhn-Faktoren für das Publikum kaum Wünsche offen ließ.


3.
An dieser Stelle ist es nun höchste Zeit, auf die Frage einzugehen, weshalb der Unterschied zwischen sogenannter ernster Musik, E-Musik, und Unterhaltungsmusik, U-Musik, bislang nicht ausführlicher thematisiert wurde?

Der Grund hierfür ist vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass die nicht nur beschreibende, sondern vor allem auf- und abwertende Unterscheidung zwischen E und U fast nur in deutschsprachigen Ländern gebräuchlich und am ehesten als Reaktion auf den Missbrauch von Musik durch die Nationalsozialisten einzustufen ist.

Durch die moralisierende Unterscheidung von hochkulturell edler (E) und popularkulturell minderwertiger Musik (U) wurden die klassischen Musikwerke mit pseudoästhetischen Argumenten durch die Distanzierung vom angeblichen Mist der Schlager- und Marschmusik für den Nachkriegskonsum gleichsam in entnazifizierter Form freigeschaltet, zugleich aber auch die aus den USA kommende Sieger-Musik, Jazz, Swing und Hollywood – beispielhaft etwa durch Glenn Miller und sein Orchester dargeboten – in unverfänglicher Weise zurückgewiesen, was im Übrigen die aus heutiger Sicht vollkommen unverständlich heftigen Reaktionen auf die harmlosen Beatles und ihre nicht minder harmlose Musik erklärt: der demokratische Westen trug mit ihnen in postfaschistischen Landen nicht nur am Schlachtfeld und in der Politik, sondern nun auch in der Musik endgültig den Sieg davon.

Nicht nur dieses fragwürdige Erbe der Nachkriegszeit, sondern auch die inzwischen nicht einmal mehr von den treuesten Adorno-Anhängern geleugnete überragende Bedeutung des Jazz und vieler Meisterwerke der sogenannten Unterhaltungsmusik, die längst Eingang in das kollektive Gedächtnis der Menschheit gefunden haben, aber auch bedeutende Grenzgänger wie Dimitri Schostakowitsch mit seiner Jazz Suite oder Nino Rota mit seinen unvergleichlichen Filmmusiken lassen es geboten erscheinen, auf jede wertende Unterscheidung zwischen E und U zu verzichten und sich darauf zu verständigen, dass es prinzipiell nur zwei Arten von Musik gibt, ob sie nun unterhält oder anstrengt und wie auch immer die jeweils entscheidenden Kriterien der Qualitätsbestimmung aussehen mögen: gute und schlechte Musik.

Daraus jedoch folgt, dass im Gegensatz zur landläufigen Meinung, die aus den weniger komplizierten Notenbildern der sogenannten Unterhaltungsmusik den falschen Schluss zieht, sie sei leichter zu spielen, der Grundsatz zu gelten hat, dass hochwertige Unterhaltungsmusik geradezu versiertere und gebildetere Dirigenten und flexiblere und kundigere Musikerinnen und Musiker benötigt als so manche als sogenannte Kunstmusik angepriesene Blasorchester-Originalkomposition.

In diesem Zusammenhang sei nur an die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten erinnert, einer alpenländischen Dorfmusikkapelle die Geheimnisse des Swing zu vermitteln, was im Übrigen – übertragen etwa auf die Heimat des Jazz New Orleans – bei der Vermittlung eines Wiener Walzers dortselbst nicht weniger schwierig ausfallen dürfte.

Die Verblendung gar mancher Kapellmeister samt ihrer Banda amateurhafter Musikerinnen und Musiker, unverwechselbare Lebensgefühle von Südamerika mit seinem Bossa Nova und Tango über die USA mit Gershwin und Swing, Spanien mit Paso Doble und Frankreich mit seinen Chansons begriffen zu haben und musikalisch durchdringen zu können, zeigt das ganze Elend geschmäcklerischer Abgründe, wie sie uns aus vielen Programmen von Frühjahrs- oder Herbstkonzerten, aber auch aus Zeltfesten entgegen klingen.

Noch dramatischer wird das Desaster allerdings dann, wenn die Sehnsucht nach Modernität sich in die Aporien der zeitgenössischen Kunstmusik verirrt, ein letzter Sündenfall, den es zu verhindern gilt, sofern es das Ziel von Musik bleibt, ohne Peinlichkeiten die Menschen zu erfreuen, zu bewegen und damit die Ränge zu füllen.

Fortsetzung folgt

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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