Thomas Nußbaumer bespricht:
"Die Passagierin"
von Mieczysław Weinberg (1919–1996)
am Tiroler Landestheater

Es ist erstaunlich, leider aber auch kennzeichnend für die Mentalität unserer europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, dass diese packende Oper über die NS-Massenvernichtung und Gräuel in Auschwitz des jüdisch-polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg (1919–1996) zwar schon 1968 vollendet worden war, aber erst 2006 in Moskau konzertant und 2010 in Bregenz szenisch uraufgeführt wurde.

Jennifer Maines (Lisa), Roman Payer (Walter) © Birgit Gufler Jennifer Maines (Lisa), Roman Payer (Walter) © Birgit Gufler

Schuld daran war auch das sowjetische System, dessen Kulturzensoren dem Komponisten, der auf der Flucht vor den Deutschen schließlich in Moskau eine Heimat gefunden hatte, einen bloß „abstrakten“ und zu wenig „sowjetischen“ Humanismus vorwarfen. Das System fürchtete in Wahrheit, dass „Die Passagierin“ zu sehr an den Gulag – das System der Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion – erinnerte. Weinberg wurde schließlich auch in der UdSSR verfolgt und geächtet.

Die Handlung, die auf einen realitätsnahen Roman der heute übrigens 98-jährigen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz zurückgeht und von Alexander Medwedew in ein Opernlibretto gefasst wurde, kreist um eine für die Protagonistin, die einstige Auschwitz-Lagerwärterin Lisa, unangenehme Begegnung auf einer Schiffsreise in ein zukünftiges Leben zusammen mit ihrem Mann Walter.

Abongile Fumba (Bronka), Susanne Langbein (Katja), Nadja Stefanoff (Marta), Susanna von der Burg (Alte), Zsófia Mózer (Vlasta), Chor © Birgit Gufler Abongile Fumba (Bronka), Susanne Langbein (Katja), Nadja Stefanoff (Marta), Susanna von der Burg (Alte), Zsófia Mózer (Vlasta), Chor © Birgit Gufler

Sie erkennt in einer Passagierin, die sie stumm beobachtet, die einstige Gefangene Marta wieder. Diese Begegnung nach 15 Jahren löst in ihr eine Kette von unterdrückten Erinnerungen an Ereignisse und Traumata in Auschwitz aus, die im wachsenden Widerspruch zu eigenen Unschuldsbeteuerungen stehen.

Szenen der Lagerzeit wechseln mit quälenden Dialogen zwischen Lisa und ihrem Mann, der um seine Diplomatenkarriere fürchtet, sollte Lisas SS-Vergangenheit publik werden.

Nadja Stefanoff (Marta) © Birgit Gufler Nadja Stefanoff (Marta) © Birgit Gufler

Die Passagierin selbst bleibt – außer in den Erinnerungsszenen – stumm und setzt am Ende allerdings ein starkes Zeichen: Sie bestellt beim Leiter der Schiffskapelle den Lieblingswalzer des Lagerkommandanten, den dieser einst von ihrem Verlobten, den ebenfalls im KZ inhaftierten Geiger Tadeusz, gefordert hatte – worauf Tadeusz, damals ebenfalls ein starkes Zeichen setzend, anstatt des Walzers Johann Sebastian Bachs „Chaconne“ in d-Moll spielte und diese Unbotmäßigkeit mit dem Leben bezahlte.

Lisa fällt in der packenden Inszenierung von Johannes Reitmeier, dem Intendanten des Tiroler Landestheaters, letztlich förmlich aus der Gegenwart heraus und verfängt sich in quälenden Erinnerungen. Der mitunter rasche Szenenwechsel zwischen Schiff und Konzentrationslager durch eine begehbare Skulptur aus Lagerpritschen gelöst, die je nach Drehung sowohl ein Schiff als auch ein Gefangenenlager darzustellen vermag.

Jennifer Maines (Lisa) © Birgit Gufler Jennifer Maines (Lisa) © Birgit Gufler

Ansonsten verzichtet Thomas Dörfler, der Gestalter dieses eindrucksvollen Bühnenbildes, auf jede Art von Dekoration. Die Kostüme von Michael D. Zimmermann bleiben nahe am zeitlich-historischen Umfeld: Abendkleidung der sechziger Jahre am Schiff, Sträflingskleidung im KZ. Hier könnte man darüber diskutieren, ob nicht eine zeitlosere Kleidung eine Aktualisierung in dem Sinn, dass derartige Lager jederzeit möglich sind, bewirkt hätte. Allerdings erzeugt diese brutale Uniformierung der Gefangenen einen heftigen Kontrast zu den individuellen Sehnsüchten und Freiheitshoffnungen der Lagerinsassinnen.

Nadja Stefanoff (Marta), Alec Avedissian (Tadeusz) © Birgit Gufler Nadja Stefanoff (Marta), Alec Avedissian (Tadeusz) © Birgit Gufler

Obwohl diese Oper fast drei Stunden dauert, fesselt sie bis zur letzten Minute, auch deshalb, weil die Handlung und die Musik stets „punktgenau“ sind, der rote Faden nie verlorengeht. Mieczysław Weinberg, der übrigens in seinem Freund Dimitri Schostakowitsch einen glühenden, aber leider erfolglosen Fürsprecher für seine Oper fand, schuf eine Musik der absoluten Klarheit und Reduktion: Klare Gesangslinien, meist unterlegt mit kammermusikalischen Strukturen, in denen die Klarinetten, die Fagotte, das Altsaxofon, die Hörner dominieren und das übrige Holz mit Blech und elegischen Streichern nur gelegentlich pointiert auffahren, stehen in Kontrast zur klangfarbenreichen Rhythmik von Pauken, Schlagwerk, Celesta, Klavier.

Die Musik ist der russischen Schule ihrer Zeit verpflichtet und Einflüsse von Schostakowitsch und Prokofjew sind unüberhörbar. Doch Weinberg war alles andere als ein Epigone und so wechseln „russische“ Orchesterklänge geschickt mit Zitaten und Verfremdungen von Jazz, Volkslied und Barock. Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck unter der vitalen Leitung von Tommaso Turchetta setzte die Orchesterpartitur blendend um.

Das große Ensemble der Sängerinnen und Sänger, wobei handlungsbedingt die Frauen überwiegen, hinterließ durchgehend einen famosen Eindruck.

Fotini Athanasaki (Hannah), Annina Wachter (Yvette), Zsófia Mózer (Vlasta) © Birgit Gufler Fotini Athanasaki (Hannah), Annina Wachter (Yvette), Zsófia Mózer (Vlasta) © Birgit Gufler

Jennifer Maines sang die Partie der Lisa, die zwischen Schuldgefühlen, Selbstzweifeln und Brutalität pendelt, mit extremer Ausdruckskraft und Leichtigkeit in der Höhe, Nadja Stefanoff als ihre Gegenspielerin Marta, die sowohl im Mezzosopran als auch jugendlich-dramatischen Sopranfach zuhause ist, stand ihr um nichts nach.

Alec Avedissian (Tadeusz) © Birgit Gufler Alec Avedissian (Tadeusz) © Birgit Gufler

Der Tenor Roman Payer berührte als Walter insbesondere in den unruhig aufblitzenden, emotionalen Passagen, wenn seine Rolle ganz schnöde um ihr berufliches Fortkommen fürchtet und für die Opfer im Todeslager keine Empathie aufbringt. Alec Avedissian verkörpert den starken Tadeusz mit größter Überzeugung, und auch die Darstellenden der Nebenrollen sorgen für intensive Momente, etwa die brillante Susanne Langbein als Lagerinsassin Katja, wenn sie a cappella ein Volkslied vorträgt, Abongile Fumba mit warmem Timbre, wenn sie ihr Heil in der Religion sucht, oder Irina Maltseva als Krystina und Annina Wachter als Yvette, die mit stimmlicher Höhe und schauspielerischem Können für Emotionalität sorgen.

Nadja Stefanoff (Marta), Chor © Birgit Gufler Nadja Stefanoff (Marta), Chor © Birgit Gufler

Und ebenso die übrigen – Zsófia Mózer als Vlasta, Fotini Athanasaki als Hannah, Susanna von der Burg als Alte, Oliver Sailer, Valentin Vatev und Michael Gann als SS-Männer, Ulrike Lasta als Oberaufseherin, Rosmarie Reitmeir als Kapo, Jannis Dervenis als älterer Passagier und Andrea De Majo als Stewardess – bringen sich pointiert ein, prägnant unterstützt von Chor, Extrachor und Statisterie des Tiroler Landestheaters.

Das von wahrem Humanismus geprägte, geniale Werk Mieczysław Weinbergs ist übrigens mehrsprachig, es wird auf Deutsch, Polnisch, Englisch, Französisch, Tschechisch, Jiddisch und Russisch gesungen und hat heute als ein wohl unüberhörbares Mahnmal gegen das Vergessen zu gelten.

Der Text erscheint auch im Online-MERKER (www.onlinemerker.com).

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Thomas Nußbaumer

Thomas Nußbaumer ( geb.1966 in Hall in Tirol) ist ein österreichischer Musikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Volksmusikforschung / Ethnomusikologie. Nußbaumer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Innsbrucker Sitz der Universität Mozarteum Salzburg, Abteilung für Musikwissenschaft, Abteilungsbereich Musikalische Volkskunde, seit 2010 als Universitätsdozent für Volksmusikforschung. Daneben arbeitet er als freier Kulturjournalist.

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