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Ronald Weinberger
100 Jahre Dadaismus
Jedem Ende wohnt ein Zauber inne.
Poesie

Vor 100 Jahren erlosch eine der avantgardistischsten, revolutionärsten, ja die vermutlich sogar seltsamste der zahlreichen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts: der Dadaismus.

Freilich glomm manch Dadaistisches weiter, bis heute, und Ende der 1950er-Jahre flackerte sogar für kurze Zeit eines dieser Glutnester kräftig auf, wobei ihm die Bezeichnung „Neo-Dada“ zuteil ward. Es ist meines Erachtens folglich mehr als bloß angemessen, sich kurz dieser 1916 in Zürich von Hugo Ball und anderen gegründeten, künstlerischen und literarischen Bewegung, die in einer Anzahl großer Städte, darunter vor allem Berlin, aber ebenso New York, Fuß fassen konnte, zu erinnern.

Ich erkühne mich, auch deswegen einen knappen Beitrag über dieses „Jahresjubiläum“ des Dadaismus verfasst zu haben, weil ich, gleichwohl kräftig dilettierend, seit längerem eine geradezu diebische Freude beim Schreiben von möglichst absurden/bizarren Gedichten verspüre, wobei derart „schräge“ Gedichte eines der Grundelemente des Dada darstellen und somit legendär wurden.

Der Dadaismus – ich zitiere aus dem im Jahr 2020 im TASCHEN-Verlag erschienenen Werk „Moderne Kunst. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart“ (S. 265) „… war keine ausschließlich künstlerische, literarische, musikalische, politische oder philosophische Bewegung. Tatsächlich war er all das und zugleich dessen Gegenteil: anti-künstlerisch, provozierend literarisch, spielerisch musikalisch, radikal politisch, aber antiparlamentär, manchmal auch nur kindisch“.

Und weiter (S. 268): „Mit dem naiven Kinderlaut „dada“ fanden die Dadaisten ihren Nihilismus, ihre Abscheu gegen alle bürgerlichen Konventionen und die Kriegstreibereien der Politiker treffend bewertet. In seiner lautmalerischen Schärfe und gleichzeitigen Deutungsfreiheit schien ihnen der Begriff der passende Kampfschrei im Sturm gegen die Traditionen der Literatur- und Kunstgeschichte … zu sein“.

Kampfschrei? Nihilismus? Sturm gegen Traditionen?

Da wir glücklicherweise den 1. Weltkrieg, dessen Schrecken und die in dessen Folge eingetretenen einschneidenden Umwälzungen nicht miterlebt haben, werden derlei Begrifflichkeiten den meisten von uns zu radikal, zu umstürzlerisch erscheinen, zumal nicht bloß eine Altersmilde, sondern ebenso eine Milde in Hinblick auf lange zurückliegende geschichtliche Schrecknisse zu existieren scheint. Heutzutage ist es daher erlaubt und verständlich, sich vielen der dadaistischen Erzeugnisse und Aktionen mit einer gedanklichen und emotionalen Sichtweise zu nähern, die stets zu fördern ohnehin angeraten ist: mit Humor.

So vermag ich zum Beispiel in dem mit Abstand be- und gerühmtesten Einzelprodukt eines Dadaisten, dem Readymade „Fountain“ (einem industriell gefertigten, handelsüblichen, signierten, datierten, und auf einen Sockel gestellten Urinal) von dem sich dadurch in den Kunstolymp katapultiert habenden Marcel Duchamp nichts Provokatives zu erkennen. Ich finde es – und was er damit angestellt hat – vielmehr schlicht und ergreifend amüsant.

Ähnlich verhält es sich für mich bei vielen der dadaistischen Gedichte, dabei wohl wissend, dass selbst die angeblich so tolerante und aufgeschlossene heutige Leserschaft hierin, euphemistisch ausgedrückt, „geteilter Meinung“ sein wird. Dies hält mich nicht davon ab, Ihnen jetzt drei der bekannteren dadaistischen Gedichte zu präsentieren – und Sie im Anschluss daran mit drei (von insgesamt „ungefähr“ 102) meiner besonders grotesken gereimten Produkte zu malträtieren.


Richard Huelsenbeck (1892 – 1974)
Die Primitiven

„indigo indigo
„Trambahn Schlafsack
„Wanz und Floh
„indigo indigai
„umbaliska
„bumm DADAI


Emmy Hennings (1885 – 1948)
Nach dem Cabaret

Ich gehe morgens früh nach Haus.
Die Uhr schlägt fünf, es wird schon hell,
Doch brennt das Licht noch im Hotel.
Das Cabaret ist endlich aus.
In einer Ecke Kinder kauern,
Zum Markte fahren schon die Bauern,
Zur Kirche geht man still und alt.
Vom Turme läuten ernst die Glocken,
Und eine Dirne mit wilden Locken
Irrt noch umher, übernächtig und kalt.
Lieb mich von allen Sünden rein.
Sieh, ich hab manche Nacht gewacht.


Kurt Schwitters (1887 – 1948)
So, so!

Vier Maurer saßen einst auf einem Dach.
Da sprach der erste: „Ach!“
Der zweite: „Wie ists möglich dann?“
Der dritte: „Daß das Dach halten kann!!!“
Der vierte: „Ist doch kein Träger dran!!!!!!“
Und mit einem Krach
Brach das Dach.


Ronald Weinberger (1948 – 20??)
Trennendes?

Der Haarriss wiegt ein Achtelgramm
Der Riss das Dutzendfache
Der Sprung steht militärisch stramm
Die Ritze säuft aus einer Lache
Die Fuge speist sich aus Musik
Die Spalte ist rundum empathisch
Die Kerbe geizt mit ‘ner Replik
Die Kluft wirkt ab und zu erratisch
Die Klamm zeigt sich als wohlerzogen
Die Schlucht isst gerne Straußenei
Das Tal der Klamm ist sehr gewogen
Doch hört: da tönt Protestgeschrei!
„Was ist mit MIR?!“ die Delle brüllt
Vor Scham hab ich mein Haupt verhüllt.


Äsung

Ich äse tunlichst Leberkäse
sofern ich diesen vorher fräse.


Urviecher & Co

Der Aal nagt gern am Hollerstrauch,
das Chamäleon bisweilen auch.

Der Emu, der hingegen,
lechzt nach des Papstes Segen.

Das Gnu, mit seinen Flossen,
liebt saure Sommersprossen.

Der Ibis jagt in Korsika
vergeblich nach Generika.

Der Kugelfisch zerkugelt sich
vor Lachen über dich und mich.

Das Murmeltier frisst feiste Sprotten,
besonders wenn sie zart gesotten.

Der Orca schnuppert Safranblüten,
bevorzugt die in Plastiktüten.

Die Quappe ist gar liederlich;
sie wirft mit Astgabeln um sich.

Der Springbock fliegt stets nach Gespür
und hinter sich wirft zu die Tür.

Das Urviech, weil sehr anerkannt,
ist König in dem Viecherland.

Das Wollnashorn, da längst perdu,
verbietet sich jegliche Liebesmüh.

Der Yak ist kaum euphorisiert,
dass er als Schlusstier reüssiert.


Nun, hoffentlich sind Ihnen beim Lesen all dieser Gedichte nicht die Grausbirnen aufgestiegen. Bei den Verlagen ist selbiges offensichtlich der Fall, denn dass ich gar noch einen Verlag für mein nicht eben weniges einschlägig Gereimtes finde, kann ich mir vermutlich in die bei mir “Beinahe-nicht-mehr-Vorhandenen“ schmieren. Bestseller sind mit solchen aus der Milch einer unfrommen Denkungsart geronnenen Gedichten wohl schwer erzielbar, Worstseller womöglich schon − dürften die Verlage meinen…

Ich komme zum Schluss und zwar mit einem weiteren Jubiläum. Einem 40-jährigen.

Wenn Sie jetzt lesen: „Da Da Da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha“, dann werden bei nicht wenigen von Ihnen (zugegebenermaßen bevorzugt bei den nicht mehr ganz Taufrischen) Erinnerungen wach. Angenehme, beflügelnde, hoffe ich. Reminiszenzen an einen der größten kommerziellen Erfolge der Neuen Deutschen Welle. Ach, ich habe dieses Lied, diesen lässigen Sprechgesang und den prägnanten Rhythmus, geliebt! Es wurde am 9. Februar 1982 veröffentlicht, legte einen raketenhaften Start hin und eroberte in Folge zuerst die Ohren, dann die Herzen und Hirne von auf pfiffige Musik versessenen Menschen in etwa 30 Ländern.

Dass das Da Da Da eine Anspielung auf den Dadaismus gewesen sein dürfte, versteht sich von selbst.

So, genug geDADAt!

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Walter Plasil

    habe das dada gelesen, das dada ist lustig, dada habe ich gelacht, dada habe ich mich gefreut, dadadanke dafür. das dadasein erhält dadurch den dadasinn.

  2. gebhard schatz

    DaDa dAdA Link https://vimeo.com/585002350 tirol heute 2021
    Florian Kaplick bei „stummer schrei “ im zillertal
    liebe dadudide dooooH euer gebhard schatz „ich sehe dass ich NiCH daDA bin“

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