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Helmuth Schönauer rezensiert
Robert Misik: "Die neue (Ab)normalität"

Ein Essay zur Stimmung in pandemischen Zeiten lässt sich flapsig mit einem „Nasenbohrertest“ vergleichen. Er gibt bloß einen Augenblicksbefund wieder, kaum ausgeführt, kann der Status schon wieder ein anderer sein.

Robert Misik hat zum Covid’schen Jahrestag eine kleine Chronik der Ereignisse zusammengetragen. Neben der Stimmung der Individuen und deren Aufspaltung in gesellschaftliche Einzeller widmet er sich auch der Zukunft des Gemeinwesens, die als schöner Trost ausformuliert ist: Es wird eine große Party geben!

Als Eingangsbild nimmt er das Großstadt-Gewurl „tosender Straßenlärm“ von Charles Baudelaire, das als das genaue Gegenteil eines Lockdowns gelesen werden kann. Und daraus quillt das Wortspiel von der neuen Ab/Normalität hervor.

Nach der Aufzählung des wirtschaftlichen Wahnsinns vor der Pandemie wirkt die Frage im Nachhinein tatsächlich absurd: Und diese überhitzte Wirtschaft, das Speedy-dating im Netz, der Overtourismus vor jeder Haustüre, das alles soll normal gewesen sein?

Vor dem Hintergrund dieser Eingangsüberlegung war die Epoche des Innehaltens und der Neuorientierung zwingend notwendig. Die Pandemie ist keine Strafe in irgendeinem Wertekatalog, sondern ein logischer Ablauf einer Entwicklung, die jegliches Maß zerrissen hat.

Der Essay widmet sich den drei Themengruppen: Individuum, Politik, Zukunft.

Das Individuum reagiert auf die Grußformel: Wie geht‘s? am besten mit der Antwort: Danke, ich funktioniere. (68) Es ist die große Zeit der Einzelschicksale, die vor sich hindümpeln. Das vordergründige Gefühl besticht mit Langeweile und Stillstand. Man ist an ein Zitat um 1910 erinnert, wo ganze Jahrgänge sich „wenigstens einen Krieg“ wünschten, um der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Komplette Kids-Kohorten sitzen auch heute herum und sagen: „Wir haben nichts zu erzählen, als dass wir zu Hause herumgesessen sind.“ (75)

Auf die Lage dieser verlorenen Individuen reagiert die Politik täglich aggressiver und ausgelassener. Jeder Minister spielt seine Grundkonsistenz als Extrem aus. Der Innenminister schreit, weil er das am besten kann. Der Gesundheitsminister belehrt, weil er sonst nichts gelernt hat. Wichtig ist, dass irgendeine Handlung gesetzt wird. (102) Da offensichtlich neue Parameter im Umgang mit der Virus-Gesellschaft fehlen, wird auf hochgerechnete Daten früherer Ereignisse reagiert nach dem Motto: Wenn laut zu wenig ist, muss es noch lauter sein!

Im Grauwasser zwischen Individuum und Öffentlichkeit spielt sich der Diskurs auf Foren wie Zoom ab, das sich als Plattform für „gemeinsam einsam“ beschreiben lässt. (124) Hier gerät auch die Kunst an ihre Grenzen. Nicht, weil sie nicht mehr öffentlich aufgeführt werden darf, sondern weil sie in alten Kunstformen weitermacht, die weder für das Publikum noch für die sogenannten Kreativen interessant sind. Und Kunst ohne Interesse, außer dass sie stattfinden soll, ist etwas zu dünn.

Der Essay bietet allerhand Ermunterungen, auch wenn sie explizit nicht so benannt werden. So appelliert er an ein historisches Bewusstsein, das individuell und kollektiv ja immer noch vorhanden ist. Die Beobachtungen, aus dem letzten Jahr für sich genommen, zeigen, dass in dem Einheitsgefühl von Pandemie und Langeweile durchaus interessante kulturelle Aktionen zu vermelden sind. Allein der Werdegang einer Maske, bis sie auf der Nase sitzt, ist ein alltagskultureller Vorgang, der sich ständig verändert. Die diversen Wellen geben zudem die Möglichkeit der Orientierung. Ah, das war ja in der zweiten Welle!

Kollektiv und somit kulturhistorisch betrachtet lässt sich die Covid-Geschichte mit der Spanischen Grippe vergleichen. Dass beispielsweise niemand wahrhaben wollte, dass es etwas Tödlicheres gibt als den Krieg, hat zu großen Verlusten geführt. Die Spanische Grippe führte letztlich zu dem berühmten Kulturorgasmus der Zwanziger Jahre. Alles muss raus, was langweilig ist! Nach diesem Motto war in urbanen Kreisen täglich Party angesagt, während große Bevölkerungsteile im Prekariat versanken.

Wenn es rein nach der Lust der jetzt Leidenden geht, ist nach der Pandemie die große Party angesagt. Aber es wird auch Verluste geben. „Viele Menschen werden verschwunden sein!“ (126) Das betrifft unter anderem gewohnte Geschäfte und Treffpunkte, wo es das eine oder andere Beisl einfach nicht mehr geben wird.

Auf höherer Ebene wird der Neoliberalismus wohl eine Zeitlang ausgequatscht haben. (130) Der Staat wird eine Weile ungeahnte Aufgaben zu erfüllen haben, auf die er nicht vorbereitet ist. Überhaupt werden sich neue Paradigmen in einem Niemandsland auftun müssen. (131) Die Künstler und Denker könnten durchaus schon anfangen damit, statt sich in Lethargie zu suhlen, die man im vorigen Jahrhundert das bloße „Versinken der Gesellschaften in Zeit“ genannt hat. (146)

Robert Misiks solitärer Essay-Stil hat auch etwas von dieser Musilschen Meta-Überlegung an sich, wonach die Österreichische Seele das Schludrige schätzt, lieber noch ein Schleiferl draufsetzt, statt den Knoten zu zerschlagen. Mit dem Virus hat dieses Österreichische freilich einen Gegner erhalten, dem es auf dieser Weise nie gewachsen sein wird.

Beim Virus gibt es keine Verhandlungen und Lockerungen. Das ist auch eine Herausforderung an alle Essayisten, die mit bloßen Vermutungen keine Chance  haben. Da hilft nur die Impfung. Ein moderner Essay in der Post-Covid-Zeit wird also wie eine Impfung ausschauen müssen.

Robert Misik: Die neue (Ab)normalität. Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft.
Wien: Picus 2021. 156 Seiten. EUR 16,-. ISBN 978-3-7117-2107-5.

Robert Misik, geb. 1966, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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