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Helmuth Schönauer
20 Jahre Radio Freirat (!)
Stichpunkt


Von Innsbruck aus sendet das Freie Radio „Freirad“ ungebrochen seit zwanzig Jahren auf 105,9 MHz. Dieser Tage steht das 20er-Jubiläum an, aber man weiß nicht recht, was feiern und wann genau.

Der Sender wurde nämlich seinerzeit von hässlichen weißen Männern gegründet, die den Namen Freirat (!) ins Spiel brachten, weil sie alle nach einer Dienstprüfung im Öffentlichen Dienst Titel trugen wie Amtsrat, Oberrat oder Hofrat. Wenigstens in der Freizeit wollten sie titellos sein, und gaben daher dem Sender diesen kühnen Namen.

In der Gründungsphase gab es die Parole, dass die Sendungen möglichst so gestaltet sein sollten, dass die Hörer etwas davon haben, nicht die Sendungsmacher. „Ein Projekt verwirklichen, nicht sich selbst verwirklichen!“

Mittlerweile hat sich allerhand geändert. Die alten weißen Männer haben Haus- und Hörverbot, die Themen werden an der Börse für Minderheitenfragen eingekauft, und am Mikro wird gegendert, dass die Fetzen fliegen.

Der Sender ist zu einem Therapie-Studio für Sprechgestörte geworden. Kaum jemand kriegt einen ganzen Satz hin, ja im Gegenteil, wenn man versteht, was jemand sagt, ist er gleich verdächtig.

Dabei gibt es laut Homepage einen einladenden Service zur Weiterbildung. Es werden regelmäßig Seminare für Urheberrecht, Stimme und Präsenz, Sprechen im Radio, Sprechen und Texten angeboten.

Aber offensichtlich schaffen es nur die Wenigsten, das am Vortag Eingeübte am nächsten Tag auf Sendung zu bringen.

Da weiße Männer mittlerweile keine Vorschläge mehr machen dürfen, vor dem Ausklinken aus dem Sender noch ein paar abstoßende Fragen.

1.
Wenn sich die Hörgewohnheiten verändern, sollen sich dann auch die Sendegewohnheiten verändern? Seit Sendebeginn sind Internet, Streaming, Podcast und Radiothek hinzugekommen. Die diversen Sendungen aus dem Homeoffice haben die Hörgewohnheiten verändert. Wer ein schlechtes Bild streamt, stottert oder keine Message in fünf Wörtern hat, fliegt vom Bildschirm.

2.
Sollte man nicht einmal die gesendeten Zeiteinheiten daraufhin überprüfen, wo sie dramaturgisch hingehören? Also was geht in die Radiothek, was wird wiederholt, was wird kompostiert zu einem Hör-Trailer?

3.
Sollte sich Radio Freirad zwischendurch eine Zuhörer-orientierte Identität schaffen? Zumindest beim Subventionsansuchen müssen ja ein paar Richtzahlen auftauchen, könnte man diese vielleicht nach den pandemischen Erfahrungen des Publikums nachjustieren?

4.
Wenn der Schwerpunkt um den Cluster Minderheiten kreist, müsste man Minderheiten nicht auch unter dem Aspekt des Mainstreams konnotieren?
Ein Minderheitenprogramm könnte ja darin bestehen, dass man etwas nur mit der halben Sendeleistung abstrahlt, damit die Reichweite eine für Minderheiten bleibt.
Wenn man diese Überlegung dem Umgang mit der Sendesprache gegenüberstellt, zeigt sich, dass fast alles mit halber Sprachkraft gesendet wird. Die Hälfte der Sätze geht nämlich im Schlund der inkompetenten Sprachanwender verloren und bleibt hinterm Kehlkopf stecken.

5.
Was ist eine sprachliche Minderheit?
Nach gängiger Praxis von Freirad genügt es, dass der Sendende so klandestin spricht, dass ihn niemand außer er sich selbst versteht. Nach dieser Richtlinie müsste jeder sofort eine Sendung kriegen, wenn er ein Dada-Programm abliefert, das mit einem Zufallsgenerator Laute ausstößt?

6.
Lohnte es sich, in einem Pilotprojekt zu versuchen, ein Thema so darzustellen, dass der Feind (weißer Mann) als Verbündeter mithilft, das angeschnittene Problem zu lösen oder zu lindern?

Die weißen Männer werden das Jubiläum mit einem Besuch auf der Homepage feiern und alle Subventionsansuchen unterstützen, damit in zwanzig Jahren wieder jene Fragen gestellt werden können, die bis dorthin nicht einmal mehr die künstliche Intelligenz versteht.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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