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Regina Hilber
Unter Dach und unter Wasser
Über die Unmöglichkeit,
einen Essay über Steyr zu schreiben.
Bericht als Stadtschreiberin
Folge 1:
Halte Kurs auf Tuvalu!

Unlängst das Wasser. Zu viel davon. Enns und Steyr in ihrem Zusammenfluss bringen nicht nur den Stadtkai und die Enge regelmäßig in Bedrängnis, das angeschwemmte Totholz staut sich am Ende der Kaimauer unterhalb des Café Werndl. Schicht für Schicht haben sich Baumstämme, Äste und Müll am Rand der Wehr ineinander verhakt.

Die Steyr umspült den Wulst gelassen, ergibt sich nur wenige Meter dahinter in die Enns, oder ist es genau umgekehrt: die Enns ergibt sich der Steyr? Zwei Kräfte, ein Terrain.

Mit Steyrs Stadtpolitik verhält es sich ebenso: zwei sehr gegensätzliche Pole die aufeinanderprallen, die führende sozialdemokratische Partei und die Volkspartei, nicht annähernd gleich stimmenstark, gemessen an ihren politischen Inhalten könnten sie nicht divergenter sein.

Gleichzeitig das für die Auto-, (ehemalige) Rüstungs- und Industriestadt typische Paradoxon, dass beide Mächte, direkt um den Industriestandort und dessen Wirkmacht buhlen. Was der Kleinstadt fehlt sind die Oppositionsparteien, wie vergleichsweise in der Bundespolitik, als Puffer dazwischen.

Die radikalen Gegensätze, die hier in beiden Lagern nach außen hin wirkmächtig gegeneinander auf- bzw. antreten (in Wahrheit bedingen sie einander wie Yin und Yang) erzeugen eine spürbare Atmosphäre der Gewaltenteilung bzw. Differenzenpflege, obwohl sie wie Nut und Feder ineinanderpassen müssen, um die Industriestadt funktionabel zu halten.

Das Ypsilon, das der Anthologie Das Y im Namen dieser Stadt(1) gedient hat, bildet gleichzeitig ein Symbol für den Flusszusammenlauf als auch für eine Gabelung im Sinne einer Teilung/Spaltung. Es ist Ein Steyr Lesebuch(2) der finstereren Gangarten, das schonungslos die dunklen sozialgeschichtlichen wie politischen Perioden der Stadt aufgreift, dysfunktionale Denk- und Verhaltensmuster abbildet. Das hervorgehobene Ypsilon mit grünem Untergrund ziert auch das Stadtemblem.

Der deutsche Germanist und Autor Andreas Wang macht in seinem Buch Lob der schwierigen Lesart – Streifzüge durch unlesbare Bücher(3) darauf aufmerksam, wie wenige Leser die zwar gehypten wie kultigen Bücher der Bücher tatsächlich gelesen haben (James Joyces Ulysses – keine Überraschung; aber auch Pier Paolo Pasolinis Petrolio wird von Wang seziert) und hilft, jenen Stolpersteinen der Unlesbarkeit auf die Spur zu kommen.

Beim Überfliegen seines Inhaltsverzeichnisses folgt Ernüchterung. Dass das Rad nicht mehr neu erfunden werden kann, da macht sich die Autorin keine Illusion, aber mit dieser exakten Wortgleichheit verglichen mit den Notizen/Überschriften zu meinem Steyr-Essay habe ich nicht gerechnet.

Hier wie da lese ich: Landvermesser Wegesucher, Zufallsgenerator –oder Lautmaler und Bildermacher. Mittendrin: Nomadisches Schreiben. Das gibt mir den Rest. Im Doppelpack tritt die Banalität unserer Stichwörter plakativer vor Augen.

Wie kann ich als Solostimme einer Anthologie wie Das Y im Namen dieser Stadt auch nur ansatzweise gerecht werden als Neo-Stadtschreiberin? Ich bin erst einmal wortlos. Und entmutigt.

Der Arbeitstitel meines Essays muss umformuliert werden: Über die Unmöglichkeit einen Essay über Steyr zu schreiben – Neue Gelände. Natürlich hat Steyr auch seine urbanen Wegmarken, aber es liegt so wunderbar grün und ungeniert rasterlos hingebettet über die schönsten weichgezeichneten Hügel und Buckel der Voralpen, so lieblich hingegossen zwischen der kalt und klar einströmenden Steyr und der immergrünen Enns, dass das Synonym Gelände passender erscheint als Stadtgebiet.

Auch wenn Steyr 1236 das Stadtrecht verliehen wurde, eint gegenwärtig fast alle Stadtteile ein dörflicher Charakter – sowohl städtebaulich als auch atmosphärisch.

Stadtgefühl evozieren etwa die Satellitensiedlung am Tabor oder die mittelalterliche Innenstadt, wobei der schnieke Schaukasten rund um den Stadtplatz mit seinen diversen Bauepochen (ein einzigartiges Ensemble in Österreich) heute eher wie ein überdimensionales Freilichtmuseum wirkt, das durch blinde Beschilderungswut zerfurcht wird. Diese dörfliche Struktur wie Mentalität heben viele SteyrInnen als lebens- und liebenswerte Eigenheit hervor, sprechen von ihrem Hoamatl.

Jener zentralen Pittoreske zwischen dem Neutor und der Enge stehen das Industriegelände in Münichholz oder Dornach diametral gegenüber. Der markante Konglomeratwulst bildet neben dem natürlichen Wassernetz der Steyr eine weitere Klammer wie Geländekante. Noch Dorf oder schon Stadt, Provinzidylle oder diffuser Beamtenapparat?

Infrastrukturell kommen keine Zweifel auf. Vielleicht war es anfangs genau jene schwierige Lesart von Steyr, die den zuerst angetretenen Stadtschreiber Andreas Stichmann aus Berlin dazu veranlasst hat, vorzeitig wieder die Segel zu streichen. Uns beide verbindet der Versuch und eine literarische See.

Unter Dach in der Kollergasse die langgezogene, schmale Stadtschreiberwohnung, drüben auf der anderen Seite der Enns. Dicht an dicht stehen die winzigen Häuschen in der mittelalterlichen Gasse mit Kopfsteinpflaster, manche nur eine Armbreite voneinander entfernt, dort, wo die Bauweise nicht geschlossen ist.

Die schmalen Häuschen und ergo ihre Dachwohnungen sind genau ein Zimmer breit. Wie in einem Schiffsrumpf, darüber nur das Deck als Dach, als dünne Haut und Guckloch. Aussicht zur Seite oder nach vorne hin gibt es nicht. Entlang des Mittelfirsts durch die Wohnung laufen, Dachluke eins bis vier öffnen, schließen, öffnen, schließen, niemals unbeobachtet lassen, halb aufschieben, ganz aufkippen mittels Dachfensterstange, die Dachhaut mit ihren Öffnungen ist sensibel, die wechselhafte Witterung bestimmt den Lukenalltag.

Wo hängt die Stange? Auf Luke eins, drei, nein vier? Welches Fenster zuerst, wenn der Starkregen plötzlich einsetzt? Die schmale Reihe durchlaufen, immer mit der Stange in der Hand, von morgens bis wiederum morgens. Das ist neu für mich. Niemals die Luken aus den Augen lassen, auch nachts nicht.

Unter den Dächern läuft das Leben durch die Luken aus, dringt durch sie von außen wieder herein: Wir hören einander, wir lauschen einander, wir riechen einander die gesichtslosen Nachbarn und ich, wir erkennen einander ohne uns zu sehen. Wir liegen jeweils im eigenen Dachboden, aneinandergeschmiegt wie in einem Hafen, Schiff an Schiff nur durch Bojen einen Spaltbreit voneinander getrennt. Kein Himmel, kein Ausblick zur Seite hin, wir sind unter Deck, richten unsere Köpfe steil nach oben, legen den Kopf weit nach hinten in den Nacken: Formen von Blau, Schwarz. Gelb bei Hagel.

Und so schaukeln wir durch die Nacht und durch den Tag, die Nachbarn in den schmalen Häusern rechts und links von mir und ich, atmen hinaus über Deck, hören die Musik aus einem Smartphone des anderen durch die Luken hereindröhnen, hören das Hinausatmen des einen in den Abendhimmel, während wir versuchen ganz still in uns selbst hineinzuatmen und uns die Gesichter der Dachnachbarn in den Häusern nebenan auszumalen.

Ich bin jetzt hier, im Bauch des Schiffs und zähle die Sparren an der Dachschräge. Von der Dachluke des Nachbarhauses rechts von mir weht der Geruch von gebratenem Fleisch herein, links von mir dringen Fetzen eines Telefongesprächs hinaus auf das Schindeldach und nur wenige Meter entfernt, durch meine Dachluke wieder herein. Wir wissen viel voneinander, wenn auch in Fragmenten.

1 Hg. Erich Hackl und Till Mairhofer, Edition Ennsthaler 2005
2 Untertitel zu Das Y im Namen dieser Stadt
3 Matthes & Seitz 2020

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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Regina

    Lieber Werner Schandor, dankeschön, morgen folgt eine Fortsetzung inkl. Hemingway & Co. Not to miss it…………

  2. Werner Schandor

    Schöner Text über eine sehr eigene Stadt. Ich bin immer wieder mal in Steyr und konnte mir bis heute keinen gescheiten Reim darauf machen. Ich wünsche noch eine gute Zeit im Zwickl zwischen Steyr und Enns!

  3. Regina Hilber

    Danke dir, liebe Christine! Die folgenden Textteile 2 und 3 werden noch spannender……………..
    Hemingway & love

  4. c. h. huber

    wunderbar, wie du, liebe regina, hier einen kleinen einblick oder besser ausblick auf die auch mich beeindruckende stadt mit dem Y gegeben hast, etwas ganz besonderes, dein blog-beitrag – und auch diese stadt!

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