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Regina Hilber
Statik-Büro Wilde 80er
Folge 1:
Roter Zeiger

Wilder als der Wald ist der Fels. Auf ihm turnen die Gämsen, von ihm fallen die Ungeübten und die Draufgänger wie übergroße Schneeflocken zu Tal. Manchmal rieselt es sogar Kletterer, an sonnigen Samstagen im Mai zum Beispiel, wenn in den Felsritzen das letzte Eis zur Mittagszeit schmilzt, das Gestein brüchig wird und abbröckelt und die zur Kralle gekrümmten Finger keinen Halt finden, sondern in poröses und loses Gesteinsgebrösel greifen.

Dann säumen Verunglückte die schmalen Zugänge unterhalb der Felswand. Der Rettungshubschrauber kreist und kreist, während drüben im Dorf die Kinder aus den Kinderwägen in den Himmel hinauf zeigen und munter mit den Füßen strampeln, der Bauer auf dem Feld aber weiter seiner Arbeit nachgeht, ohne aufzublicken. Den gekrümmten Buckel zu strecken lohnt sich nicht wegen eines Rotorengeräuschs, der Rücken würde schmerzen beim Aufrichten und ließe sich nur widerwillig wieder beugen zum Heu der ersten Mahd.

Die Martinswand ist so ein Fels, der lange Tabellen mit Verunglückten führt. Oder der Klettergarten am Wilden Kaiser. Konkret stellt der für mich unbezwingbarste Fels, der Rote Zeiger, die größte Herausforderung dar. Nicht weil ich mich an ihm ausprobieren möchte, nein, ich muss, werde dazu gezwungen.

Das Maskulinum in der Felsbenennung ist ein Unheilsbote, scheint Garant zu sein für einen besonders hartnäckigen Fels, für Granit, an dem die Kletterer sich die Zähne ausbeißen wie an der harten Nuss. Viele hat der Rote Zeiger schon abgeworfen, ganz anders als das sogenannte Sprüngele (leicht und luftig), oder die Helenenwand (breit, aber sanftmütig und edel). Weiblich bedachte Felsbezeichnungen klingen weit weniger wild, sprich bedrohlich.

Harmlos macht sich auch das Hafelekar aus – dem Namen nach: Das Hafele (das Häferl), bürgt mit seinem weichen, gedehnten Klang und dem imaginär hinzugedachten Henkel für handfesten Halt, gleich einer mütterlichen Hand, sichernd und stützend sich unter dem Po des Bergsportlers unterschiebend (in Sicherheit wiegend). Und das Kar, ohnehin die Bezeichnung für eine kesselförmige Ausbuchtung bzw. Vertiefung eines Bergkamms, unterstützt die Rundung des Häferls, macht die verharmlosende Namensgebung komplett.

Bertram hat den ganz und gar nicht harmlosen Fels, den Roten Zeiger im hintersten Gschnitztal ins Spiel gebracht. Seit der Gipfelname im Büro kursiert, im Statikerbüro, sehe ich nur noch, höre ich nur noch der Rote Zeiger, Alarmstufe rot, so als gelte es ausschließlich diese eine unheilvolle Felswand zu bezwingen, nicht aber die zuvor erst noch zu bewältigende Wanderung mit qualvollen tausendzweihundert Höhenmetern den Gipfel hinauf: Roter Zeiger. Roter Zeiger!

Gotti, der Büroleiter, hat keine Miene verzogen, mit festem Blick, wie ihn nur ein staatlich geprüfter Schweizer Bergführer aufsetzen kann, bestätigt er in die Runde: Ja, den Roten Zeiger, den machen wir! Und Gotti grinst das Ziegenbartgrinsen, ein Gurgeln und Glucksen, hinten in die Kehle hinein, ohne dass sich seine Augenpartie auch nur einen Hundertstelmillimeter bewegt. Nur die blaue Iris weitet sich, strahlt ein wenig heller, glänzt.

Das Weinviertler Doppel, die beiden trinkfesten Techniker Gustl und Andi aus Poysdorf lachen lauthals auf, unisono. Ihr junges, überschüssiges Fleisch an den Bäuchen wackelt, wölkt sich. Ein Frau Holle-Lachen ist es, eines, das von Herzen kommt, uns ansteckt. Wie sie sich schütteln vor Lachen und umdrehen zum Zeichentisch, Gustl fährt die Linealschiene des Zeichentischs hoch und lässt sie mit einem lauten Knall auf das Transparentpapier über der harten Platte knallen. Andi tippt mit dem Zeigefinger zielgestreckt auf den Ziffertasten des Taschenrechners herum. Jede Zifferntaste ein Ton.

Aus dem Weinviertel immer gute Laune. Sie trinken Wein, viel Wein, nicht Bier, wie der Rest der Bürobelegschaft, und haben noch nie Sport gemacht. Wozu auch, sagen sie. Mitte Zwanzig sind sie, aber ihre Haut ohne Spannung, das Gewebe weich und nachgiebig. Nein, nicht mal ein Gedanke, dass man zumindest bis zur Alm hinauf mitwandere und auf die anderen warte, bis sie auf den Gipfel und den Fels und wieder hinunter.

Das Mädchen aber muss mit, muss mitwandern, mitklettern, aber klettern kann ich doch gar nicht, protestiert es, das Mädchen, das bereits eine Frau ist, insgeheim eine Frau ist, denn ein Mädchen zu sein birgt auch Vorteile in einem von ausschließlich Männern besetzten Technikerbüro in den wilden Achtziger-Jahren.

Wir haben noch jeden da hochgebracht, sagt Bertram trocken, der Neue, der staatlich geprüfte Bergretter aus Gschnitz im Gschnitztal, der noch nie gelacht oder gelächelt hat, mich stattdessen argwöhnisch beäugt. Wie schwer, wie groß, wie breit – ich werde vermessen, durchmessen, Länge, Breite, Gewicht, wie der Stahl, den es für die Betonteile zu berechnen gilt. Seillängen werden ausdividiert, Kletterrouten skizziert, eine leichte für das Mädchen, das eine Frau ist, eine anspruchsvolle für die Herren Statiker und Techniker aus dem Westen. Mir wird schlecht.


Fortsetzung nächste Woche


Aus: WELTEN WIDER WILLEN (Fabrik Transit, 2024)
Buchpräsentation mit REGINA HILBER und ERIKA WIMMER MAZOHL
Montag, 01. Juli 2024, 19:00 – WELTEN WIDER WILLEN
Regina Hilber und Erika Wimmer Mazohl präsentieren die Essay-Anthologie WELTEN WIDER WILLEN (Edition Fabrik Transit) im Rahmen einer GAV-Tirol Lesung.

„Was wilder Wald“ lautete eine der Themenstellungen zu dieser Essay-Anthologie, die während der Wolfgangseer Literaturtage im Laufe der letzten vier Jahre entstand. Die beiden Autorinnen werden ihre jeweiligen Wald-Beiträge mit starken Referenzen zu Tirol lesen.

Buchhandlung Liber Wiederin
Buchpräsentation in Kooperation mit der GAV Tirol

WELTEN WIDER WILLEN

 
 
 

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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

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