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Helmuth Schönauer
Stadtschreiberei
Stichpunkt

Literatur funktioniert wie die Nachspeise zum Menü des Lebens, sie wird meist als schmelzende Eiskomposition oder zusammenfallendes Soufflé serviert. Wer nicht schnell isst, bleibt auf einem verkrusteten Dessertteller sitzen.

Für das Publikum gilt: Wenn der Lebensauftrag abgearbeitet ist, was immer das auch heißt, darf als Ausklang Literatur als Dessert serviert werden.

Für eine Kommune bedeutet es: Wenn alles asphaltiert und mit Kreisverkehren versehen ist, darf sich jemand als Stadtschreiberin darüber hermachen und es besingen.

Durch die taffe Schreibarbeit unserer Korrespondentin Regina Hilber sind wir dieser Tage mit einem Genre vertraut gemacht worden, das sich ähnlich wie das Hörspiel tapfer gegen das Verdunsten wehrt: Die Stadtschreiberei.

Die Autorin wohnt für vier Monate in der Stadtschreibenden-Unterkunft in Steyr und brütet täglich darüber, wie sie einen Text hinkriegt, der dem Versprechen gerecht wird, das sie gegeben hat: In Steyr zu leben, etwas darüber zu schreiben und den Leuten vorzutragen.

Diese Schreibsituation ist der eines männlichen mittelalterlichen Stadtschreibers nachempfunden, wo fahrende Gesellen zwischen Gosse und Gaststätte absteigen und Kost und Logis abarbeiten konnten durch einen besonders pfundigen Text. Diesen hat man Jahrzehnte später als Marmortafel an die Gaststätte genagelt, um zu zeigen, wer hier schon einmal genächtigt hat.

In den 1970er Jahren, als es darum ging, die Alltagswelt zu literarisieren, drang die Literatur auch in die Museen schriftstellerischer Utensilien ein und diverse Gedächtnisstuben wurden reaktiviert. Im alten Wien-Museum wurde etwa an das Bett von Grillparzer ein Besucherschreibtisch gestellt, an dem sich die eine oder andere Schreibseele inspirieren lassen konnte.

Und im Finanzministerium wurde gar aus dem Grillparzerzimmer des ehemaligen Finanzbeamten eine Stadtschreibwerkstatt, worin Formulare entwickelt werden konnten zur Abrechnung von Schriftstellern.

Zusätzlich zur musealen Auffrischung des mittelalterlichen Schreibgestus dienten quer über das Land gesät manche ehrwürdige Schreibgewölbe auch als Wohnungen für poetisierende Gedenkdienstleister.

Neben den drei prosaischen Aktionen als Militär-, Zivil- oder Gedenkdienst, die seit Jahrzehnten vom Bund gemanagt werden, loben viele Städte mittlerweile auch den Poesie-Dienst aus, der wahlweise als Stadtschreiberei, Urban Writing oder Town Clerking bezeichnet wird.

Dabei wird meist handfeste Recherchearbeit verlangt. Die dunklen Kapitel einer Stadt sollen so von auswärtigen Gastschreibern aufgearbeitet und möglichst schonend dargestellt werden.

Im Kern erfüllen diese Gedenkschreiber den kaum wertgeschätzten Dienst, die Stadtbevölkerung auf das Schlimme vorzubereiten, das demnächst aufbrechen wird, wenn die echten Historiker über die Stadt herfallen.

Die Wahrheit ist den Menschen zuzumuten. – Wer einen solchen Satz der Ober-Poetin Ingeborg Bachmann im Gepäck hat, tut sich leichter, der Stadt zu erklären, dass fast alle ihre Straßennamen von Nazis stammen und das Vereinsleben einem unaufgeräumten Gau-Haufen gleicht.

Während man zur Jahrhundertwende mit dem Aufarbeiten der dunklen Zeiten im ersten Kehrvorgang durch ist, werden nun mit ähnlicher Verve die nächsten finsteren Kapitel abgearbeitet: Gewalt, Emanzipation, Geschlechtswahl, digitale Kindervergewaltigung.

Die Anwärterinnen für die aktuelle Stadtschreiberei müssen dabei in mühsame Vorleistung gehen. Zum einen müssen sie wissen, was gerade wo en vogue ist und wie sich dort der aktuelle Gemeinderat zusammensetzt. Zum anderen müssen sie den Aufenthalt in die eigene Biographie einbauen, damit genug Beinfreiheit herrscht zwischen den persönlichen Schreibprojekten und den ausgeschriebenen Schreibaufgaben.

Stadtschreiberei ist inzwischen ein eigenes Genre geworden, das in manchen Schreibwerkstätten oder literarischen Universitätsinstituten gelehrt wird. Das Grundcurriculum lässt sich in der These zuspitzen, wonach alles im Literaturbetrieb aus drei Teilen besteht: Inhalt, Design und Präsentation.

Im Falle der Stadtschreiberei sind selbstverständlich die Kosten für diese Felder gedrittelt. Ein Drittel der Projektgelder geht an die Autorinnen für Logis und Taschengeld (Inhalt), ein Drittel kassiert die Jury (Design), die möglichst oft tagen muss, um die Sitzungsgelder zu rechtfertigen, und ein Drittel fließt in die Präsentation, wenn etwa der Gemeinderat zum Buffet lädt, um die poetischen Recherchen feierlich und final abzustellen.

Der Köder soll dem Fisch schmecken. Nach dieser Weisheit muss die Stadtschreiberin der Jury schmecken, denn diese ist es, die nach Beute schnappt und sich oft erst bei der Finalpräsentation zu erkennen gibt.

Die Stadtschreiberei ist eine soziologisch verlässliche Methode, die Themenmelange diverser Kommunen für ein größeres Gemeinwesen sichtbar zu machen. Und auch für die Autorinnen ergeben sich Konsequenzen. Mit einer einmaligen Stelle als Town Clerk ist es nämlich nicht getan.

Wenn du einmal in dem Modus drin bist, die diversen Ausschreibungen abzugrasen, gibt es kein Halten mehr. Noch während du in Steyr sitzt, musst du schon andere Auslobungen lesen und dich bewerben. Es soll ja ein Schreibprogramm daraus werden, nicht bloß ein einzelner Essay.

In Zeiten von Homeoffice und Airbnb braucht es freilich einen gewissen müßiggängerischen Typ von Schriftstellerin, um sich die Leiden des Stadtschreibers, wie man früher gesagt hat, anzutun.

Wenn jetzt nicht gerade die Korrespondentin des schöpfblog in Steyr wäre und dabei so nett ist, davon öffentlich zu berichten, was hätte dann die Stadtschreiberei für eine Auswirkung auf Tirol? Also in Schwaz hat Barbara Zemann im Dezember die Stadt durchstreift und ihre Zeit bei den Franziskanern abgesessen. Die nächste Ausschreibung für 2023 läuft noch auf https://literaturforum.at/

Und der stille Autor Alois Hotschnig wartet in seinem Höttinger Quartier schon aufgeregt darauf, im Mai in Mainz die durchaus repräsentative Stelle als Stadtschreiber anzutreten.

Die Vorfreude auf die Stadtschreiberei schmeckt wie leichtes Soufflé, von dem der Halb-Hippie Hesse trefflich schwärmt: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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