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Regina Hilber
Statik-Büro Wilde 80er
Folge 3
Was, wilder Wald

Fundamentpläne zeichne ich am liebsten. Die Grundrisspläne für Fundamente sind geordnet und übersichtlich. Zwischen den aufgezeichneten Säulenfundamenten und den Streifenfundamenten, sofern es keine Bodenplatte gibt, bleibt viel Freiraum für die Beschriftung sowie für die runden Kringel von der Kreisschablone. Kurzum: auf dem Grundrissplan für Fundamente ist viel Platz: Platz für eigene Ideen, Platz zum Ausschwirren in die eigenen Kopfwelten abseits des Arbeitsalltags.

In die mit sehr dünner Tusche gezogenen Kreise (Durchmesser 1cm) setze ich in dicker Schrift die Nummerierungen mittels der Zahlenschablone ein. Gustl hat mir die Eisenliste neben das Transparentpapier auf dem Zeichentisch geklebt. Anhand der Eisenliste, die der Statiker zuvor berechnet hat, sind die verschiedenen Durchmesser für die Bewehrung der einzelnen Betonwände, -decken, -säulen, der Unterzüge und Überzüge, ersichtlich. Die Unterzüge machen am meisten Arbeit beim Zeichnen der Statikpläne, sie müssen am Rand des Grundrisses auch im Schnittdetail dargestellt werden für den Polier.

Position 1 für nicht gebogene Eisen mit Durchmesser 12 (für 12 Millimeter), Position 2 für nicht gebogene Eisen mit Durchmesser 14 und so fort. Auch die Länge ist natürlich variabel und je nach Länge nummeriert und positioniert. Für Säulenfundamente werden auf der Baustelle auch gebogene Eisen, sogenannte Körbe, mit den vier Längseisen in jeder Ecke, vom Eisenbieger verdrahtet. Position 32 also für zu einem Viereck gebogenem Eisen, das die Längseisen umklammert. Dicke Tuschestriche für dicke Eisen, dünne Tuschestriche für kleiner dimensionierte Bewehrungen.

Der Statikplan ist ein undurchdringlicher Wald, ein nicht zu entzifferndes Dickicht – auf den ersten Blick. Ich klammere mich an eine Zahl, die Vier zum Beispiel, konzentriere mich auf diese Ziffer und schon sehe ich nur noch Vieren auf dem riesigen Plan vor mir. 

So spaziere ich durch das Dickicht aus Linien und Schraffuren, durch Vierecke und Kreise, durch Zahlen für Positionen oder Längenangaben, durch spezielle Hinweise für den Polier und Eisenbieger und finde somit einen Pfad durch den Wald, der voller Bäume steht. Wie Hänsel und Gretel folge ich der Spur der Brotkrumen auf dem Weg.

Ähnliche Brotkrumen streute Anne Burda aus in der 1950 ins Leben gerufenen Zeitschrift Burda Moden mit ihren genialen Schnittmusterbögen. Auf nur einem faltbaren Papierbogen sind mehr als dreißig Schnittmuster zu unterschiedlichsten Kleidermodellen aufgedruckt. Der Clou: jedem Modell, ob Hose, Kleid oder Bluse, wird ein anderes Linienmuster und eine andere Farbe zugeteilt. Sternchen-Linie-Sternchen (*-*-*-*-*-*-*-*-*-*-*) für einen Blazer etwa, Plus-Strich Strich-Plus für die adrette Schluppenbluse (+—-+—-+—-+—-+—-+), oder simpel Punkt-Punkt-Punkt (. . . . . . . . . . . .) für das modische Sommerkleid mit Spaghettiträgern – auf einem einzigen Bogen Papier, der auseinandergefaltet ungefähr eineinhalb Quadratmeter misst, finden so unzählige Schnittmuster in unterschiedlichen Konfektionsgrößen Platz. 

Die Herausforderung für die Näherin liegt in der Spurensuche: Punkt für Punkt und Stern für Stern dem jeweiligen Muster in der spezifischen Farbe auf dem dichtest bedruckten Bogen folgen, niemals abweichen vom Weg, konstant diese EINE Linienführung im Auge behaltend (Gretel, nimm den Hänsel bei der Hand!) und mit dem Lochrad diese Spur auf ein darunter gelegtes Seiden- oder Packpapier durchkupfern. Kein Linienwald ist dichter, verwirrender und aufregender als ein Burda-Schnittmusterbogen, oder ein dicht wuchernder Bewehrungsplan aus unserem Statikbüro!

Wo ist die blaue Linie, die schwarze, grüne, rote? Wo läuft Punkt-Punkt-Stern aus für den Ärmel? Ist hier keine Kante? Ein wildes Gestrüpp, einem über Jahrzehnten überwucherten aufgelassenen Garten gleich. Welcher Zweig ist welcher Pflanze, welchem Strauch zuzuordnen? Der beinahe undurchdringliche Schnittmusterbogendschungel ist meinen vor mir liegenden Bewehrungsplänen sehr ähnlich. Auf Konzentration folgt Entwirrung, besser: Entwirrnis.

Aber hier mein Fundamentplan in ausschließlich schwarzer Tusche: Die unzähligen, kleinen Kreise für die Bewehrungspositionen sind meine Luftblasen, meine Gedankenblasen. In ihnen läuft meine imaginäre Parallelwelt ab, plustern sich Sprechblasen zu tollkühnen Dialogen auf, Worte, die niemals gesprochen werden in der realen Welt, zumindest nicht in meiner bescheidenen realen Welt. 

Worte und Gedanken auf Papier sind geduldig, erst recht auf transparentem Papier und wenn ich Stunde für Stunde über den Plan gebeugt nach Orientierungspunkten Ausschau halte, mich festkralle an Vieren oder Kreisen oder Körben, dann verselbständigt sich parallel dazu die Kopfwelt, meine Kopfwelt, bricht aus, weitet sich, ergießt sich ungefragt über den auf den Zeichentisch geklebten Planriesen. 

Triviale, pathetische, ja geradezu lächerlich anmutende Tagträumereien drängen sich da auf, während Gustl und Andi den Raum vernebeln mit ihren stinkenden Zigaretten. Wie dicke Baumstämme im dichten Nadelwald schießen meine Phantastereien zwischen dem Planriesen und meiner imaginären Kopfwelt auf, ganz sinnbefreit und jeglicher Logik entbehrend. 

Kein zartwüchsiges Pflänzchen erst mit feinen Wurzeln, Grünflaum, dann Jahr für Jahr emporwachsend, nein, dicke Baumstämme, hundertjährig, gewaltig, poppen aus der Erde, die meine Phantastik ist. Hier bin ich! Hier stehe ich im Wald und versuche, den Roten Zeiger zu verdrängen, über den Gotti seit Tagen witzelt. Manch ein Bäumchen wird sogleich niedergetreten, noch bevor es in Gedanken gänzlich ausformuliert wird, andere wiederum poppen dicht nebeneinander, wie nach oben entweichende Symbole in einem Videospiel vor schwarzem Hintergrund, auf der vor mir liegenden Lichtung auf.

Hat sich der ungefragt in Erscheinung tretende Phantastereienreigen erst einmal aktiviert, in Gang gesetzt, während ich mich mit Mühe über den großen Zeichentisch beuge, ist er kaum zu stoppen. Einem dichten Dschungeldickicht gleich, stellt sich eine grüne, braune Wand meinem Fortschreiten in den Weg, müssen Lianen mit der Machete zerhackt, Gesträuch niedergetreten und Zweige mit den Armen beiseitegeschoben werden. Trotzdem blitzt so ein Tagtraumsplitter immer wieder vor mir auf, nimmt Aufstellung, will weitergedacht werden. Dann raunt Andi lauthals in seinem Weinviertler Dialekt durch das verqualmte Büro und ich sehe wieder den Fels, den Roten Zeiger, den das Mädchen anhand Bertrams errechneten Seillängen bezwingen soll, aber nicht will.

Die Eisenliste ist abgearbeitet, ich kontrolliere noch einmal alle Positionen auf dem Plan, vergleiche sie mit der Tabelle, die ich akribisch prüfe, jede errechnete Zahl mit dem Taschenrechner noch einmal nachrechne. Dann trage ich mit hoch erhobenen und ausgestreckten Armen den fertig gezeichneten Plan, der etwas am Boden schleift, hinüber in Gottis Büro, das empfindliche Transparentpapier darf beim Tragen durch den Flur nicht einreißen an den Seiten, und platziere das Ungetüm von zwei Quadratmetern auf seinem Ablagetisch:

Ich laboriere noch an einer Eierstockentzündung. Ich kann nicht mitkommen auf den Roten Zeiger! sage ich zu meinem eigenen Erstaunen mit fester Stimme. Am Wahrheitsgehalt dieser Aussage ist nicht zu zweifeln. Gotti blickt von seinen Berechnungen hoch, blitzt mich an mit seinen kühlen blauen, bewegungslosen Augen und nickt wortlos. Gustl hämmert peinlich berührt auf die Rechenmaschine ein, es ist mucksmäuschenstill.

Aus: WELTEN WIDER WILLEN (Fabrik Transit, 2024)
Buchpräsentation mit REGINA HILBER und ERIKA WIMMER MAZOHL
Montag, 01. Juli 2024, 19:00 – WELTEN WIDER WILLEN
Regina Hilber und Erika Wimmer Mazohl präsentieren die Essay-Anthologie WELTEN WIDER WILLEN (Edition Fabrik Transit) im Rahmen einer GAV-Tirol Lesung.

„Was wilder Wald“ lautete eine der Themenstellungen zu dieser Essay-Anthologie, die während der Wolfgangseer Literaturtage im Laufe der letzten vier Jahre entstand. Die beiden Autorinnen werden ihre jeweiligen Wald-Beiträge mit starken Referenzen zu Tirol lesen.

Buchhandlung Liber Wiederin
Buchpräsentation in Kooperation mit der GAV Tirol

WELTEN WIDER WILLEN

 
 
 

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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

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