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Regina Hilber
Unter Dach und unter Wasser
Über die Unmöglichkeit,
einen Essay über Steyr zu schreiben.
Folge 2
Eine Ahnung von Alpen.

Von der Aussichtsplattform am Tabor blickt man in das grüne Land hinein bis zum Traunstein. Eine Ahnung von Alpen. Wenn Liebreiz ein Synonym sein will für eine Kulturlandschaft, dann belegt der Ausblick vom Tabor Richtung Damberg und Garsten den ersten Rang.

Kuppe um Kuppe schmiegt sich angenehm uneinheitlich aneinander. In diese landschaftliche Idylle schieben sich diverse unangetastete kollektive Traumata und Tragödien, die Steyr durchlebt hat. Was genau liegt da in der Luft?

Von den ehemaligen Wasserkraftwerken entlang des Wehrgrabens bis zum neu adaptierten Innerberger Stadl bildet Steyr jenen schnieken Schaukasten. Der Standort der FH neben dem Museum Arbeitswelt als innovatives Pendant hätte nicht besser gewählt werden können. Die Romantisierungsschiene läuft diametral zur Vergangenheitsbewältigung und führt in ein Vakuum, das gut verschnürt zwar angestarrt, aber semiversorgt bleibt.

Das kollektive Kriegs- und Nachkriegstrauma liegt latent über der Stadt, hat tiefe Gräben, vor allem auch innerfamiliär, gerissen. Aber auch die bittere Armut der Arbeiterschaft über mehrere Perioden und Jahrhunderte hinweg hat sich nachhaltig in Steyrs Sozialgeschichte eingeschrieben. Ein stetes Auf und Ab.

Natürlich wäre es einfach als Außenstehende mit ausgestrecktem Finger auf die Plansiedlung Münichholz zu zeigen, auf die Zwangsarbeiterbaracken, auf die zahlreichen Außenlager des KZ Mauthausen oder die Baracken im Ennstal, die noch gegenwärtig sind, oder auf die einstige Herstellung von Waffen und Kriegsmaterial zu verweisen.

Steyr war nicht bloß irgendein Industriestandort für die Waffenproduktion, sondern einer der bedeutendsten Waffenlieferanten Europas.

Ab dem Zeitpunkt des Hineinfragens und Bohrens wird es schwieriger für alle Lager: Wie genau kann so eine Auseinandersetzung mit Stadtgeschichte, mit politischem Erbe, geführt werden? Wem wird sie gerecht und aus welchen Motiven? Wie der heutigen Stadtstruktur begegnen, den BewohnerInnen begegnen, die nicht verantwortlich gemacht werden können für die Verbrechen der NS-Zeit?

Mit Erinnerungs- und Gedenkkultur setzt sich vor allem das Mauthausen Komitee Steyr auseinander. Zwischen all dem Grün der Enns und Kuppen lag und liegt auch tiefes Braun.

Was ist ein Stadtschreiber? Welche Arbeiten habe ich zu erbringen? Ganz klar wird hier vor Ort eine konkrete Leistung vorausgesetzt, die plakativ vor Augen treten soll. Sofort. Diese Prä-Einforderung ist neu für mich, sei ganz typisch für das Städtchen um das Ypsilon.

Bis zum letzten Tag meines viermonatigen Aufenthaltes in einer repetitiven Schleife: Was muss ich hier vorlegen? Vielleicht liegt es an der Beamtendichte, die in Steyr seit jeher besonders hoch ausfällt, sie soll bundesweit an erster Stelle rangieren.

Was ist ein Schriftsteller, höre ich mich dann selbst sagen, nein, flüstern. Es ist, als fordere man einen Buchhalter auf zu erklären, was ein Buchhalter an Aufgaben zu erfüllen habe, ohne darauf zu vertrauen, dass jener Buchhalter schon wisse um seinen Beruf.

Ich liege nachts unter Deck, befrage mich, wie ein Flugverkehrsanalyst sich selbst als Flugverkehrsanalyst befragte, sich ein Mechatroniker selbst als Mechatroniker abtastete, beprüfte, weil er in der Außenwahrnehmung nicht als solcher identifiziert werden will: Was genau wird von außen nicht verstanden? Hast du tatsächlich (fälschlicherweise?) angenommen, ein Mechatroniker zu sein? Ich zähle die Holzbohlen an der Dachschräge, auf Sicht verschalt.

Gegenwärtig die Einrichtungsphase: Einen neuen Steyr Traktor vor die Tür geliefert bekommen. Er will eingefahren werden. Wie unterscheidet er sich vom Vorgängermodell? Woran orientiere ich mich zuerst? Der Kunstlederbezug über dem Sitz riecht nach Chemie. Wo ist der Hebel für die Höhenverstellung? Das Lenken eines Fahrzeugs macht erst Spaß, wenn alle Handgriffe sitzen, die Funktionen auf dem Tablet einstudiert sind. Halte Kurs auf Tuvalu. Acht aneinandergereiht.

Das Schriftstellern ist kein Speedbootfahren. Es ist ein Segeln auf hoher See. Navigieren und Aufzeichnen, den Radius immer breiter ziehen, genau hier setzt der Zirkel an. Manchmal sitze ich im dunklen Schiffsrumpf, im Frachtraum, dann wieder steige ich hinauf an Deck, hisse die Segel, oder packe den Sextanten aus.

Die Stürme gibt es, die Stürme gibt es, würde Inger Christensen sagen, hohen Wellengang auch. Ozeanien ist mein Ziel, ein Essay über die Stadt Steyr. Der Kurs wird gehalten.

Joseph Conrad hatte viele Jahre lang als Kapitän das Südchinesische Meer befahren, bevor er sein erstes schriftstellerisches Werk veröffentlicht hat. Er hat sie gehasst, die immergleiche Route zwischen zwei winzigen indonesischen Inseln. Die See als unendlicher Irrgarten ist keine Option, selbst gedachte Prokrastination erlebe ich als Angstauslöser: Ein Nichts, das in ein anderes Nichts einfließt.

Lieber einen Kurs bestimmen und halten, auch wenn die Wegesuche den Zufallsgenerator nicht scheut. Zur Zeit begreife ich die Stadt Steyr als meine See. Die SteyrInnen helfen mir dabei, bestimmen bewusst und unbewusst Tempo, Richtung oder Seegang. Strandgut wie Totholz nicht ausgeschlossen. Aufzeichnungen, Katalogisierungen, Kausalitätsketten, Koinzidenzen von Stopover zu Stopover.

Steyr ist für mich genau so exotisch wie Tuvalu: Ich war nie zuvor dort gewesen.

Aber da sind auch die vielen wunderbaren SteyrInnen, ihrerseits ebenso AbenteuerInnen, WhistleblowerInnen, WegbereiterInnen und MuntermacherInnen, die neugierig sind, den Austausch nicht scheuen, mit Rat und Hilfe zur Seite stehen, mich tatkräftig unterstützen und den Wind ankurbeln. Sehr bald also steuere ich die weite See hinaus, so wie Andreas Stichmann, halte aber trotzdem Kurs auf Tuvalu und nicht auf den Heimathafen.

Wie in der Diskrepanz eines Schwimmers in der Wüste beheimatet, bewege ich mich fort, bereit, alles Flaniergut aufzulesen, das die Stadt samt Umland bereithält. An Wegen wie auch Wägen kommt man in der Automobilstadt Steyr nicht herum.



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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Regina Hilber

    Liebe Christine, versprochene Referenz zu Hemingway folgt erst im nächsten Kapitel…… Danke, dass du mir nach TUVALU gefolgt bist!

  2. c. h. huber

    du schaffst deine aufgabe, liebe regina, möchte ich dir zurufen, solltest du kurz daran zweifeln. hasts ja bisher schon mit bravour geschafft, uns dieses Y anschaulich nahezubringen samt vielen aspekten der stadt, auch des schreibens, deines stadtschreibens dort. sehr gerne folgte ich dir auf deinen (gedanken)wegen.
    danke, und wie sagt heschö immer: halte durch!

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