Print Friendly, PDF & Email

Peter Kurer
Festland, Treibsand
Die Postmoderne im Recht
Essay

Wir assoziieren die Postmoderne mit Kultur und Philosophie, mit Auster, Gehry und Lyotard, kaum aber mit dem Recht. Indessen hat die Postmoderne auch die grosse Erzählung des Rechts gebrochen und es in unzählige kleine Geschichten zerlegt.

Architekten bauen in der Zwischenzeit wieder modern, die postmodernen Autoren sind ohne Nachfolger ins Pensionsalter getreten. Das postmoderne Recht jedoch ist lebendiger denn je. Vielleicht werden wir eines Tages sagen: Was bleibt von der Postmoderne? Die Entropie des Rechts!

Das Recht ist ein Klassiker der Moderne. Es entstieg dem Chaos des Mittelalters, in dem Kaiser und Papst, König und Barone, Sheriff und Robin Hood um Geltung stritten. Es entwickelte sich über viele Stationen von der Magna Charta bis zum Grundgesetz zu einem glitzernden Gebäude der Moderne: der grossen Erzählung schlechthin.

Dem aufklärerischen Räsonnement folgend gilt für das Recht, dass es klaren und einsehbaren Regeln folgen muss, in einem legitimen Prozess erstellt wird und für jedermann in gleicher Art gilt.

Gemäss den Rechtspositivisten kommt hinzu: Recht ist autonom, folgt also anderen Gegebenheiten als die Kultur und Politik. Es mag zwar einen moralischen Geltungsanspruch haben, aber es ist etwas anderes als die Moral.

Die grossen Rechtspositivisten Hans Kelsen, H.L.A. Hart und Joseph Raz haben immer wieder betont, dass man über rechtliche Rechte und Pflichten anders sprechen muss als über moralische.

In der postmodernen Sicht auf das Recht ist dieses aufklärerische Paradigma zerbrochen. Ein Haupttreiber ist die Globalisierung. Treten einfache Bürger, Reisende, Migranten oder Unternehmen aus der nationalen Rechtsphäre hinaus und in die internationale oder gar globale Welt hinüber, müssen sie kafkaesk erschrecken.

Anstatt einer klaren Rechtsregel gelten plötzlich viele, sich oftmals konkurrenzierende und sich widersprechende, und dies bis zur bitteren Konsequenz, dass man für einen einzigen Rechtsbruch an mehreren Orten gleichzeitig verfolgt werden kann.

Die schottische Rechtsphilosophin Sionaidh Douglas-Scott vergleicht das postmoderne Recht mit der Carina Nebula: There are black holes, dark matter and all matter of imponderable, perplexing shapes.

Das Recht ist nicht mehr autonom oder rein, sondern vielmehr eingebettet in die allgemeine kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung, und deshalb entdeckt Douglas-Scott im postmodernen Recht ebenso viel Chaos und Bedeutungskonflikte wie in Austers The City of Glass.

Der globale Wandel ist Hauptgrund der postmodernen Transformation des Rechts. Man muss aber anderes erwähnen, zuvorderst die sich überstürzende technologische Entwicklung, zum Beispiel das heraufziehende Metaverse. Die Impresarios dieses neuen Universums wollen eine Parallelwelt schaffen, in der gelebt, geforscht und gereist wird, all dies nach eignen Regeln.

Solche technologischen Entwicklungen schieben ein gewaltiges rechtliches Niemandsland vor sich her, das sich dem Geltungsanspruchs des Rechts entzieht und doch Gültigkeit einfordert.

Man kann vieles hinzufügen: das Aufkommen omnipräsenter Soft Laws, die eben kein Recht, sondern nur Aspirationen sind; moralisierende Sichten auf die Menschenrechte, die direkt und ohne sozialen Prozess gelten sollen; die damit verbundenen Tätigkeiten von NGOs, Standard-Settern, woken Cancel-Kulturen und dem medial inszenierten Gericht der Öffentlichkeit.

Das ist das heutige Bild des Rechts, wie es die postmoderne Hermeneutik sieht. Indessen gibt es viele, die darüber hinausgehen. Christian Becker verwendet die Instrumente der postmodernen Sprachkritik, von Wittgenstein bis Rorty, um das klassische Rechtsgebäude daraufhin abzuklopfen, wieviel objektiver Gehalt nach einer solchen Analyse noch bleibt – wenig an alteuropäischem Rechtsdenken, folgert er.

Anhänger einer postmodernen kritischen Rechtstheorie sind radikaler und wollen das Recht final zerstören, weil sie darin im Sinne von Foucault nichts anderes als eine Ansammlung von kleinen Geschichten der Unterdrückung sehen.

Mit der Postmoderne haben wir uns rechtlich vom Festland in den Treibsand begeben. Es bleiben die abschliessenden Fragen: Wollen wir das? Oder hoffen wir darauf, dass jenseits des Treibsands wieder Festland ist?

Dort würde das Recht wieder mehr klaren Regeln folgen und einen Geltungsanspruch durchsetzen, der etwas anderes ist als moralische Erwägungen oder in Soft Laws und Cancel-Kulturen verpackte Aspirationen auf Veränderungen.

Moralische Erzählungen und kritische Entwürfe haben ihre Berechtigung, sollten aber in der Welt der Regeln von den rechtlichen Regeln abgewiesen werden: in die Welt des öffentlichen Diskurses, wo pluralistische Weltbilder in einem sozialen Prozess zu etwas Allgemeingültigem zusammen gefügt werden: dem Festland des Rechts.


Herzlichen Dank an den Autor und die Zeitschrift Schweizer Monat für die Zurverfügungstellung des Artikels

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Peter Kurer

Peter Kurer wuchs in Zürich auf und besuchte das Gymnasium Stella Matutina in Feldkirch. Die Matura machte er am Kollegium Appenzell im Jahre 1969. Er studierte Rechts-, Staats- und Politikwissenschaften an den Universitäten Zürich (Dr. iur.) und Chicago (LL.M). Danach war er Anwalt und Partner bei der internationalen Anwaltssozietät Baker & McKenzie. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Er praktizierte hauptsächlich im Bereich M&A und war gleichzeitig Mitglied mehrerer Verwaltungsräte wie Holcim, Kraft Jacobs Suchard, Danzas, und Rothschild Continuation Holdings. 2001 wechselte Peter Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS. Im Jahre 2008 übernahm er während der Finanzkrise für ein Jahr das Präsidium der Bank. Von 2016 bis 2020 war er Präsident des Telekommunikationsunternehmens Sunrise. Heute ist Peter Kurer Verwaltungsratspräsident des Verlages „Kein & Aber“ sowie Mitglied des Verwaltungsrates von SoftwareOne. Daneben ist er publizistisch tätig. Sein Buch “Legal and Compliance Risk: A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business” erschien im Februar 2015 in der Oxford University Press.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Andreas Braun

    Lieber Peter Kurer!
    Herzlichen Dank für Ihre Reflexionen über das zu Treibsand erodierende Recht, dessen solider Bestand in der medialen Öffentlichkeit gedankenlos vorausgesetzt, dessen massive Gefährdung jedoch allgemein ignoriert wird (siehe aktuelle Aushungerung und Abwertung der österreichischen Justiz).
    Die Klage über die Insuffizienz des Rechts begleitet die Kulturgeschichte der Menschheit: „je mehr Gesetze, desto mehr Diebe und Räuber“ (Lao Tse), „the law’s delay“ (Shakespeare), „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ (Goethe).
    Zwei Dynamiken befeuerten – neben der von Ihnen beschriebenen postmodernen Dekonstruktion – zusätzlich die Entropie unseres Festlandes Recht:
    Zum einen die exponentiell grassierende Gesetzesflut:
    Jedem medial hochgeschaukelten Wechselfall des Lebens folgt die öffentlich rechtliche Risikoabsicherung in Form einer kasuistischen gesetzlichen Regelung, ohne zu bedenken, dass unser Zivilrecht und eine bürgerliche Risikotoleranz ausreichend Rechtsschutz gewährleisten würden. Die Gesellschaft als perfekt legistisch durchgetaktete Supermaschine bleibt nämlich eine technokratische Schimäre, selbst wenn hinterhältige „social credit systems“ heftig daran arbeiten!
    Entsprechend dieser maschinellen Logik wurde zum anderen (auch durch die obersten Rechtsinstanzen) der menschliche Ermessensspielraum der rechtssprechenden Organwalter vollkommen eingeengt bzw. beseitigt, was wiederum zu einer kafkaesken Komplikation und Verlängerung rechtlicher Klärungen führte sowie das Milliardengeschäft immer neuer „Expertenzweige“ vervielfachte.
    Die von Ihnen zitierten „black holes, dark matters and imponderable shapes“ bedrohen immer mehr das Festland Recht und damit das wesentlichste Fundament unserer so mühsam erkämpften demokratischen Freiheit und relativen Rechtssicherheit!
    Mit besten Grüßen in die Schweiz, wo es offenbar noch mehr Sensoria für die Erosion von Rechtsstaat und Demokratie gibt!

Schreibe einen Kommentar