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Werner H. Ritter
Assistierter Suizid als "ultima ratio"?
Essay

Der Kölner Theologe David Borgardts spricht in seinem Beitrag „Überlegungen zur Suizidhilfe“ (zz 5/2022, S. 42ff.) von einer „Tendenz“, die „ein `selbstbestimmtes´ Sterben gegenüber einem Erleiden des Todes pauschal zum Ideal erhebt“, was den Verdacht erwecke, den Tod zu verharmlosen (44).

Ich sehe in der derzeitigen Debatte diese Tendenz nicht, finde es zudem befremdlich, wenn der Begriff „selbstbestimmt“, wie ihn das Karlsruher Urteil wohlbegründet verwendet, durch Anführungszeichen neuerlich in ein schräges Licht gerückt wird.

So befürwortet die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) – folgt man dem EKD-Bevollmächtigten in Berlin Martin Dutzmann – die Idee, in Sachen assistierter Suizid/ Sterbehilfe wieder eine Regelung im Strafrecht vorzusehen, wie sie der konservative Gesetzesvorschlag von Lars Castellucci u.a. ins Spiel gebracht hat.

Ich halte das Strafrecht für kein geeignetes Instrumentarium in der Sache, weder 2015 noch heute. Sowohl an der EKD-Spitze als auch in den Landeskirchen meine ich jedoch eine entsprechende Neigung beobachten zu können. Ich beziehe mich im Folgenden auf eine Stellungnahme der jetzigen EKD-Ratsvorsitzenden, die in den na-news 2/2022 – einem digitalen Mitteilungsorgan der bayerischen Landeskirche – erschienen ist.

In der Diskussion über Suizidassistenz hat sich die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, für eine solche Möglichkeit in extremen Ausnahmefällen ausgesprochen.

„Als ultima ratio halte ich solchen Beistand für möglich, als verzweifelten Akt der Fürsorge und Liebe“, sagte die 58-jährige Theologin der in Düsseldorf erscheinenden „Rheinischen Post“. Dies dürfe jedoch „nicht zu einer Regeloption beziehungsweise zu einem deklarierten Recht werden“, betonte die Präses der westfälischen Landeskirche. „Bezüglich einer entsprechenden Gesetzgebung bedarf es jedenfalls noch intensiver Diskussionen.“ Ihr sei bewusst und sie wisse aus „eigener erschütterter Anschauung“, dass es extreme Situationen gebe, in denen das Leben für einen Menschen unerträglich werde und die körperlichen oder seelischen Qualen alles andere überlagerten, sagte Kurschus. Nicht jeder Schmerz könne genommen und nicht jedes qualvolle Leiden gemindert werden. „In solchen Ausnahmefällen maße ich mir kein Urteil an, wenn ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr sieht, als das Leben zu beenden und dabei andere um Hilfe zu bitten“, erklärte die EKD-Ratsvorsitzende.

Ich nehme in dieser Wortmeldung einen durchaus anderen „EKD-Ton“ wahr als zu Zeiten von Heinrich Bedford-Strohm. Das erscheint mir hilfreich! Gleichwohl zeige ich im Folgenden an, was mir an dieser Stellungnahme Beschwer macht. Es sind im Wesentlichen drei Dinge.

Zum einen ist da die Einstufung des assistierten Suizids als „ultima ratio“: Das Karlsruher Urteil verwendet weder diese Formulierung noch die kirchlich verbreitete Version „absolute Ausnahmefälle“. Vielmehr spricht es von Einzelfällen, die nicht normal werden sollen. Das ist in meinen Augen etwas anderes als „ultima ratio“.

Insgesamt kann die Kirche mit ihrer „Nein-Haltung“ wie zu Amtszeiten von Bedford-Strohm, aber auch der „Nur-in Ausnahmefällen-Haltung“ zum assistierten Suizid nur weiter verlieren. Das Karlsruher Urteil ist ein Grundsatzurteil, an dem die Kirche nicht vorbeikommt. Wenn wir politisch wahrgenommen werden wollen, müssen wir uns als demokratie- und kompromissfähig erweisen.

Dabei will ich – durchaus zuvörderst gegen das Karlsruher Urteil – an der Stelle darauf hinweisen, dass der Begriff „normal“ philosophisch und rechtlich mehrdeutig, also nicht eindeutig ist (vgl. Gerhard Ritter, in: Ritter/Gründer, HWPh Bd. 6, 1984, Sp. 920).

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich Normen und Standards des als „normal“ Erachteten kulturell immer wieder geändert haben und bis heute ändern. Man denke an den Schwulenparagrafen, das Ehescheidungsrecht oder die Eheschließung queerer Menschen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Von daher kann es m.E. nicht Aufgabe des Staates bzw. der staatlichen Rechtsordnung und erst recht nicht der Kirche sein, zu definieren, was „normal“ ist.

Anders gesagt: Wenn sich moralische Anschauungen in der Bevölkerung ändern (und das tun sie), ist das zum einen legitim und zum anderen hat der Staat das zu akzeptieren, nicht zu korrigieren. Es ist ja infolge neuzeitlicher Entwicklungen so, dass sich Menschen nicht mehr „von oben“ vorschreiben lassen, wie sie zu leben und zu sterben, zu lieben und zu glauben hätten. Darüber entscheidet zunehmend das Individuum selbst – ein Wertewandel, an dem alle westlichen Gesellschaften seit Jahrzehnten partizipieren (Ronald Inglehart, Changing Values among Western Publics, 1987).

Insofern bin ich mit nicht wenigen Fachleuten davon überzeugt, dass der assistierte Suizid a la longue „normal“ werden wird im Sinne einer von mir positiv verstandenen „Regeloption“. Normal allerdings nicht im Sinne eines Massenphänomens; denn von ca einer Million Verstorbener pro Jahr in der Bundesrepublik wählen ca. zwanzig Prozent den palliativen Weg des Sterbens, dagegen gehen Sterbewillige weit unter einem Prozent (!) den Weg des assistierten Suizids.

Diese Zahl wird sicher im Laufe der Zeit ansteigen, weil das Verbotsgesetz weggefallen ist und Ärzten keine Strafe mehr droht. Aber es spricht – wie etwa die Entwicklung in der Schweiz und im amerikanischen Bundesstaat Oregon zeigt – nichts dafür, diesbezüglich ein Schreckensszenario anzunehmen und einen „Dammbruch“ an die Wand zu malen. Im Übrigen gehört es zur Freiheit, dass sie „missbraucht“ werden kann; dennoch gilt grundsätzlich: „abusus non tollit usum“.

Sodann habe ich Schwierigkeiten, wenn Frau Kurschus den assistierten Suizidbeistand als „verzweifelten Akt der Fürsorge und Liebe“ bezeichnet.

Wieso „verzweifelt“? Was wäre an solcher Fürsorge und Liebe verzweifelt? Ich nenne solchen Beistand barmherzig. Es geht doch um elementare menschliche Hilfe zum Sterben für Menschen, die „nicht mehr leben wollen und können“. Eine Hilfe, die wir einem Tier nicht verweigern, weil das Tierquälerei wäre. Wieso dann aber einem Menschen?

Den hohen Wert der Barmherzigkeit für selbstbestimmtes Sterben haben vor über zwanzig Jahren Walter Jens und Hans Küng in ihrem Buch „Menschenwürdig sterben“ (1999, 2014) aufgezeigt und überzeugend begründet – die kirchliche Debatte hat dieses Schlüsselwort „vergessen“. Warum? Mir erscheint es in diesem Zusammenhang theologisch bedenklich, ja falsch, wenn uns das irdische Leben gegenüber dem Sterben und dem Tod alles gilt.

Ist es nicht so: Wenn auch noch Christen und Theologen meinen, einem gesellschaftlich verbreiteten Lebensfetischismus das Wort reden zu müssen, müssen wir dann nicht gerade theologisch darauf hinweisen, dass Sterben und Tod zum Leben gehören und ihre eigene Würde, ihren eigenen Wert haben?

Die Generalsynode der Niederländischen Reformierten Kirche hat vor 50 Jahren (22.02.1972) in dem Sinne in einer „Pastoralen Handreichung“ festgehalten:

„Wer lernt, den Sinn des Lebens in einer biblischen Perspektive zu sehen und es dankbar aus Gottes Hand zu empfangen, wird auch den Sinn des Todes annehmen, nachdem er lebenssatt ist, wird bereit sein, das Leben wieder in Gottes Hand zu legen“ (S. 40).

Drittens frage ich, wieso die Ratsvorsitzende den assistierten Suizid nicht zu „einem deklarierten Recht werden“ lassen will. In juristischer Auffassung ist er de facto mit der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts am 26. Februar 2020 deklariertes Recht. Das muss niemand für sich akzeptieren, aber zu respektieren ist es.

Für mich und viele andere ist das einstimmige Urteil der acht Karlsruher Richter ein Befreiungsschritt heraus aus menschlich unerträglichen und rechtlich unhaltbaren Zuständen. Demnach hat jeder Sterbewillige ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Niemand muss assistiert sterben, aber wer es will, darf es auch.

Ich erinnere an den letzten Satz des damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Professor Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung am 26.02.2020:

„Wir mögen seinen Entschluss bedauern, wir dürfen alles versuchen, ihn umzustimmen, wir müssen seine freie Entscheidung aber in letzter Konsequenz akzeptieren“.

Ich rufe in dem Zusammenhang folgende Begebenheit aus dem Vorfeld des Karlsruher Urteils ins Gedächtnis: Das Bundesverfassungsgericht hatte für den 15./16. April 2019 zur Anhörung in Sachen Sterbehilfe/assistierter Suizid nach Karlsruhe eingeladen, Betroffene, Schwerstkranke, Juristen, Ärztevertreter, Politiker usw. Meiner Erinnerung nach erhob sich gegen Ende der Veranstaltung Michael Brand, CDU-Mann und harter Befürworter des § 217 StGB, und fragte, was denn die ganze Anhörung solle. Der Bundestag habe doch mit großer Mehrheit im November 2015 das Gesetz beschlossen, das die Sterbehilfe abschließend regele. Die zur Anhörung versammelten Menschen und Kläger gegen den § 217 StGB seien demgegenüber doch nur eine kleine Minderheit.

Andreas Voßkuhle erwiderte mit großer Souveränität: Ja, eine kleine Minderheit, eben. Doch für die gelte (in der damaligen Situation) der Minderheitenschutz! Ihnen müsse Recht und Gerechtigkeit widerfahren, weswegen es rechtlich nicht angehe, dass eine Mehrheit meine, über eine Minderheit abschließend entscheiden zu dürfen.

Als Kirche haben wir das ernst zu nehmen. Und wahrzunehmen haben wir auch, dass seit Jahrzehnten in Umfragen zur Sterbehilfe weit über siebzig Prozent der Bevölkerung für den assistierten Sterbebeistand votieren, auch wenn ihn Menschen nicht in diesem hohen Maße für sich selbst in Anspruch nehmen. Aber es geht offenkundig einer gesellschaftlichen Mehrheit um die grundsätzliche Möglichkeit und Freiheit dazu.

Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Kirche, die sich als dienende versteht und die so viel von der Liebe, Menschlichkeit und Barmherzigkeit Gottes redet, sich beides: den Minderheitenschutz wie den Mehrheitenschutz ins Stammbuch zu schreiben und mit dafür zu sorgen hat, dass Menschen den je eigenen Sterbeweg gehen dürfen. Alles andere würde Kirche unglaubwürdig erscheinen lassen.

Und da es bei der Sterbehilfe nicht nur um ein theologisches, sondern auch um ein gesellschaftspolitisch hoch relevantes Thema geht, erinnere ich an ein Wort des früheren Münchner Professors für Ethik Trutz Rendtorff, eines wahrhaft liberalen Geistes:

„Die Kirche hat nicht die Funktion, den einzelnen Christen die Entscheidung, die er als Bürger zu treffen hat, abzunehmen. Sie kann keine andere Autorität in Anspruch nehmen als die Überzeugungskraft ihrer Sachargumente.“

Ich denke, dass dieses Votum auch über 35 Jahre später nichts von seiner Aktualität und Gültigkeit verloren hat. Will sagen: Wenn Kirchenmitgliedern die kirchliche Überzeugungskraft – wie etwa in Sachen assistierter Suizid – nicht ausreicht, müssen wir sie in die Freiheit und in ihre Überzeugungen ziehen lassen.

Kirchenbindung ist ja vielen Menschen deswegen so schwer, ja oft unmöglich geworden, weil sie dem Individuum zu wenig oder keine ethische Reife, keine sittliche Verantwortung lässt. Als Trutz Rendtorff am 24. Dezember 2016 stirbt, stand über seiner Todesanzeige das Pauluswort aus 2. Korinther 3, 17:

„Der Herr ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“

Ja Freiheit! Auf diesem Fundament sollten wir einander die Freiheit lassen, im Sterben wie im Leben den je eigenen Weg zu gehen.


Nachtrag:
Heute – es geht gegen Ende Mai – 2022, fällt mir zufällig die von der Diakonie Deutschland herausgegebene Broschüre „Ich bin ein Gast auf Erden“ (vom 18. Mai 2022) in die Hände. Dabei stoße ich auf das Vorwort von Diakoniepräsident Lilie und bleibe an einem Satz hängen:

„Mein Anliegen war und ist, dass die Selbstbestimmung der Menschen, die den Wunsch nach Suizidassistenz äußern, in Diakonie und Kirche an diesem kritischen Punkt sehr viel ernster genommen wird als zumindest ich es in der jüngeren Vergangenheit wahrgenommen habe.“ (S.4)

Wie gut, denke ich, dass der Diakoniechef die menschliche Selbstbestimmung so im Blick hat. Im vorgeschalteten Geleitwort (S. 3) zu dieser Broschüre der Ratsvorsitzenden Kurschus vermisse ich diesen Hinweis schmerzlich. Zu lesen ist, im Haus der Diakonie gehe es um eine „Kultur“, „die dem Leben dient“ (S. 3). Damit haben „Lebensschutz“ und Suizidprävention allerhöchste Priorität.

Da waren wir in der Diskussion schon mal weiter. Sehr viele Menschen wünschen sich nämlich eine Kirchen- und Diakonie-Kultur, die dem Leben und dem Sterben dient, etwa auch in Gestalt des assistierten Suizids. Ist das von Kirche und Diakonie zu viel verlangt?


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Werner H. Ritter

Werner H. Ritter, geb.1949 in Weißenburg/Bayern. Seit Nov. 1987 Lehrstuhlinhaber für Ev. Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Universität Bayreuth, 2000-2004 1. Vorstand im Ev. Bildungswerk Bayreuth, 2000-2004 1. Sprecher der KLT (Konferenz der an der Lehrerbildung beteiligten TheologInnen), Oktober 2008 Wechsel auf gleichnamigen Lehrstuhl an der Universität Bamberg, seit 2014 im Ruhestand. Zahlreiche Publikationen.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Rainer Haselberger

    Warum kommen die Kirchen nicht vom Paternalismus weg und können das Menschenrecht auf Selbstbestimmung vorbehaltslos akzeptieren?
    Das macht Religionen zum unverzichtbaren Instrumentarium der Mächtigen bei der Unterdrückung des freien Willens der Menschen! – Wer das selbstbestimmte Sterben nicht akzeptieren kann, ist nicht bereit, dem Menschen Freiheit und Selbstbestimmung zuzuerkennen!

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