Nicole Staudenherz
Paniert in den Abgrund?
Schnitzelland im Umbruch
Essay
Was werden Forschende in ferner Zukunft aus den Relikten des anthropozentrischen Zeitalters herauslesen? Komplexitäten und Widersprüche ohne Ende vermutlich. Zum Beispiel die bizarre Esskultur des spätendzeitlichen Homo Austriacus, der sich an seinen täglichen Verzehr panierter Fleischstücke klammert wie an eine Babydecke.
Doch ganz so einfach ist es nicht, denn genau in dieser denkwürdigen Epoche zeigt sich ein Nebeneinander und Miteinander höchst diverser kulinarischer Praktiken. Mit vielen Schattierungen dazwischen.
Typ 1: Ultra-Karnist
Solide eingehüllt in einen knusprigen Mantel aus kontrafaktischen Schutzbehauptungen schafft es dieser Typus mithilfe ausgefeilter mentaler Akrobatik, jegliche Mitverantwortung an Tierleid, Naturzerstörung und Pandemierisiken auszublenden. Tierqual? Wird ignoriert, negiert oder wegdiskutiert. Klimasünder Fleischindustrie? Nie gehört, nie hören wollen oder vom Tisch gewischt durch Berufung auf das von Agrarlobbyisten bereitwillig gelieferte Green- und Regiowashing.
Der alpenländische Karnist verzehrt ohne mit der Wimper zu zucken fast 60 Kilo totes Tier pro Jahr – in der Realität wahrscheinlich noch viel mehr, denn die Statistik Austria rechnet den Fleischverzicht der anderen nicht heraus.
Gesundheit, Ernährungsempfehlungen? Wurscht, man lebt hier und jetzt und gestorben wird sowieso irgendwann. So haut der Karnist nicht nur die eigene Gesundheit in die Pfanne, sondern auch das Wohl der zukünftigen Generationen nach dem Motto: Sorry, Planet ruiniert, aber mein Appetit ist wichtiger als euer Leben.
Ja, und auch folgendes Detail sollte nicht verschwiegen werden: Dieser Typus ist vorwiegend männlich. Das (Selbst-)Zerstörerische an der toxischen Maskulinität kristallisiert sich am Teller: Schädigt eine Mahlzeit Gesundheit, Biosphäre und Mitlebewesen gleichermaßen, fühlt man(n) sich am wohlsten.
Typ 2: Flexitarier
Dieser Typus ist durchaus offen für Fakten. Flexitarier wird, wer den Mut hat, dem Horror der industriellen Tierhaltung zumindest sekundenweise ideologiebefreit zu begegnen.
Weil Verdrängung aber gut funktioniert und soziale Kontrolle in Gasthaus, Kantine und Sportverein noch viel besser, passt sich die Moral den Umständen an.
Bezeichnend ist die kürzlich gehörte Anekdote vom wechselwilligen Fleischtiger, der in der Mittagspause das vegetarische Tagesgericht probiert und sich am hintersten Tisch versteckt, um dem Spott der karnistischen Kollegen zu entgehen.
Dennoch: Flexitarier sind üblicherweise entsetzt genug von Tierquälerei, um ihr Verhalten zu ändern, und auch ihr Bekenntnis zum Klimaschutz ist ihnen wichtiger als die Meinung der anderen.
Gerade sie sind daher aufgeschlossen für vegane Fleischalternativen und durch ihre kulinarische Neugier und Offenheit federführend beteiligt am boomenden Markt für Veggie-Schnitzel und Pflanzenburger, deren Marktvolumen sich sogar in der fleischverliebten Alpenrepublik zwischen 2018 und 2020 verdoppeln konnte.
Zudem besinnen sich etliche Mitglieder dieser Gruppe auf eine nicht allzu lange zurückliegende Zeit, in der Österreich an Wochentagen vegetarische Hausmannskost auftischte und höchstens sonntags und feiertags ein totes Tier am Teller zu liegen kam.
Flexitarier sind Pragmatiker durch und durch, aber sie sind auch die unentbehrlichen Träger der überfälligen Ernährungswende hin zu klimafreundlicher Pflanzenkost, die erst dann gelingen kann, wenn die Karnisten zumindest ins flexitarische Lager wechseln und ihren Fleischkonsum auf maximal eine Tiermahlzeit pro Woche reduzieren.
Typ 3: Veggie-Freund
Der Veggie-Freund – oder besser gesagt, die Veggie-Freundin, denn in dieser Gruppe geben Frauen den Ton an – durchschaut die Propaganda der Fleischindustrie, übernimmt Verantwortung fürs eigene Handeln und zeigt Rückgrat.
Das Ego so weit zurückzunehmen, dass der Speizezettel ökologisch und ethisch fundiert ist, und dennoch genug bei sich zu sein, um dem Bullshit-Bingo beim Familienfest, den Veganerwitzen im Kollegium und dem Neusprech der Tierhaltungslobby zu trotzen: Das erfordert eine mentale Stärke, die nicht jeder hat.
Veggie-Freundinnen beziehen aber auch Freude aus ihrer Nahrung: Sie essen nämlich weder Gras noch Steine und auch nicht ausschließlich Salat.
Entdeckungsfreudig kochen sie sich pflanzlich rund um den Globus, sind zugleich aber auch gelernte Alpenländerinnen. Bei vielen Veggie-Freundinnen steht das legendäre Kröpfl-Kochbuch im Regal und mit hoher Wahrscheinlichkeit kennen sie die nationalen und internationalen Studien über die Klimaschutzpotentiale pflanzlicher und pflanzenbetonter Kostformen.
Sie wissen, dass ein neues Ernährungssystem allein das Klima nicht retten kann, dass die Klimaziele ohne tiefgreifende Veränderung der Esskultur aber auch unerreichbar bleiben. Den passionierten Berggeherinnen unter ihnen ist schmerzlich bewusst, dass die vielgeliebten Alpen ohne eine solche Wende zu einer Waldbrand-, Unwetter- und Murenhölle zu verkommen drohen.
Angesichts dessen fällt die Entscheidung in der Küche leicht. Die identitätsstiftende Liebe zur Panier leben sie also bewusst mithilfe von Kohlrabi-, Kürbis-, Parasol-, Sellerie-, Zucchini- oder sonstigen Schwammerl- und Gemüsescheiben in allen Farben und Formen genussvoll aus.
Friendly Reminder an unbelehrbare Gasthäuser und Almhütten: Erdäpfelsalat braucht für die Würze wirklich keine Rindssuppe. Und rote Linsen lassen sich super lagern und schnell zubereiten.
In den krisenhaften 2020ern sind die Veggie-Freundinnen jedenfalls längst keine Randgruppe mehr, sondern umfassen Umfragen zufolge satte 11 Prozent der Bevölkerung: Neun Prozent der Österreicherinnen und Österreicher leben vegetarisch und zwei Prozent vegan. Tendenz: steigend.
Ja, zukünftige Generationen von Kulturanthropologen werden in ihren lichtdurchfluteten Solarpunk-Städten sitzen und den Kopf darüber schütteln, wie viele Menschen es trotz auf dem Tisch liegender Fakten und live abrollender Klimakatastrophe so lange nicht fertigbrachten, destruktive kulinarische Praktiken hinter sich zu lassen.
Und sie werden sich freuen, dass es sie auch in den dunklen 2020ern schon gab: die Pionierinnen und Pioniere der neuen, friedlichen, zukunftstauglichen Ernährung.
Quellen:
de.statista.com/statistik/daten/studie/287351/umfrage/pro-kopf-konsum-von-fleisch-in-oesterreich-nach-art
de.statista.com/themen/3804/vegetarismus-und-veganismus-in-oesterreich
dge.de/wissenschaft/weitere-publikationen/fachinformationen/flexitarier-die-flexiblen-vegetarier
forum-ernaehrung.at/artikel/detail/news/detail/News/veggie-der-trend-in-zahlen/
global2000.at/publikationen/fleischatlas
vier-pfoten.at/unsere-geschichten/pressemitteilungen/2022/oktober/auswirkungen-einer-reduktion-des-fleischkonsums
wikipedia.org/wiki/Solarpunk
Poore, J./ Nemecek, T. (2018): “Reducing food’s environmental impacts through producers and consumers.” Online unter: science.org/doi/10.1126/science.aaq0216
Schlatzer, M./ Lindenthal, T. (2020): „Einfluss von unterschiedlichen Ernährungsweisen auf Klimawandel und Flächeninanspruchnahme in Österreich und Übersee (DIETCCLU).“ Online unter: fibl.org/de/infothek/meldung/fibl-studie-startclim.html
Willet, W. et al. (2019): “Food in the Anthropocene: the EAT-Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems.” Online unter: thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)31788-4/fulltext
Zamecnik, G. et al (2021): Klimaschutz und Ernährung – Darstellung und Reduktionsmöglichkeiten der Treibhausgasemissionen von verschiedenen Lebensmitteln und Ernährungsstilen. Endbericht. Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL, Österreich. Online unter: orgprints.org/id/eprint/42833
Rezepte:
byanjushka.com/knusprige-sellerie-schnitzel-vegan-2284
eat-this.org/veganes-seitan-schnitzel-wiener-art
mangoldmuskat.de/vegane-schnitzel
zuckerjagdwurst.com/de/rezepte/vegane-schnitzel-mit-kartoffelsalat
Kochbücher:
Sebastian Copien (2018): „Heftig deftig vegan: Vegan rösten, schmoren, räuchern, grillen und braten.“
Siegfried Kröpfl (2013): „Wir kochen vegan: Veganer Genuss für die ganze Familie.“
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Guten Tag Herr Schöpf
Mit diesem Thema haben Sie sich schon öfter befasst.
Dieses Problem hat eine besondere Ursache:
Bei uns können nur wenige Personen ein wirklich schmackhaftes Essen
ohne Fleisch herstellen.
In den Ländern am Mittelmeer oder im Orient sieht das schon ganz anders aus.
Ich habe das große Glück, dass meine Frau ganz ausgezeichnete Gerichte ohne Fleisch kocht.
Mit frischen Kräutern und vielen Fair Trade Gewürzen haben wir da eine große Abwechslung.
Fleisch essen wir eher selten und da schauen wir, wo die Tiere herkommen und ob es
ihnen besser gegangen ist als bei der Massentierhaltung.
In den meisten Gasthäusern ist man bei der Suche nach einem guten Essen ohne Fleisch
nach den Kaspressknödeln und den Kasspatzln bald am Ende.
Wir denken da an die Glungezerhütte, wo wir bei den Schitouren die guten Kathmandunudeln
ohne Fleisch gegessen haben. Das hat vielen Tourengehern geschmeckt.
Gottfried Wieser hat damals die Hütte geführt. Auch hat er die neuen Pächter auf der
Neuen Regenburger Hütte bei ihrer vegetarischen Speisekarte beraten.
Die Herstellung von künstlichem Fleisch wird sicher ein guter Markt werden,
aber bei einer tollen vegetarischen Küche könnte man sich das sparen.