Christoph Themessl
Wirtschaft und Philosophie
oder
Die Welt der Thratta
Essay

Ein Beitrag zu den wirtschaftsphilosophischen „Gedankenüberschüssen“ meines geschätzten Schriftsteller- und schoepfblog-Kollegen Helmuth Schönauer. Beziehungsweise philosophische Überlegungen, wie die Ratio zu einem Mittel zum Zweck verkam und die sinnbildliche „Magd des Thales“ nun mit Schlauheit die Welt beherrscht. Nebst der Frage, warum manche Menschen, obzwar sie vom Verstand her dazu begünstigt erscheinen, gar nicht (erfolg)reich werden wollen.


Die Ratio scheint sich in unserer Zeit für immer mehr Menschen in einer wirtschaftlichen Funktion zu erschöpfen; es scheint die Annahme vorzuherrschen, dass das Denken in erster Linie Nutzanwendungen zu dienen oder zumindest einen theoretischen Beitrag zu denselben (Management) zu leisten habe.

Dem ist gar nicht so leicht zu widersprechen, und schon eine der ältesten Anekdoten unserer Wissenschaftsgeschichte wirft die Frage auf, was eigentlich das Rationale sei („wenn es keinen Nutzen habe“)?

Es ist schon ein altes Bild, das sich heute noch gerne in den Lehrbüchern für Philosophen, Physiker, Astronomen u. ä. Disziplinen findet. Es zeigt den Universalgelehrten Thales von Milet, der beim Beobachten des gestirnten Himmels rücklings in einen Brunnen stolpert, und daneben eine thrakische Magd („Thratta“), die sich über die Unbedachtheit des Mannes vor Lachen den Bauch hält.

Man kann das Bild spöttisch, rational-ironisch oder praktisch-naiv interpretieren. Für „Lebenspraktiker“, sprich Pragmatiker, ist die Aussage der Anekdote klar: Die Realität spielt sich für „vernünftige“ Menschen am Boden und nicht in den Sternen ab. Was immer der Thales gesehen haben mag (darunter einigen Überlieferungen zufolge die Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v.Ch.), es lohnt sich kaum, ihn nachzuahmen, da man dabei den Boden unter den Füßen verliert.

Die Magd Thratta ist nach diesem Verständnis also die Realistin und der Philosoph und Mathematiker weltfremd. Die folgende Kritik an diesem Ratio-Verständnis, welches das Praktikable mit „wahr“ gleichsetzt (in der Philosophie Pragmatismus oder Pragmatizismus genannt) richtet sich selbstverständlich nicht gegen den Bauernstand, das Handwerk oder den Warenhandel im Allgemeinen. Eine gewisse „praktische Lebensart“ zur Bewältigung des Alltags ist zweifelsfrei eine Notwendigkeit.

Erst wenn sich das „Thrattanische“ axiomatisch zu behaupten beginnt, wenn der kleine Nutzen-Kalkül unserer Magd Anwendung auf grundlegende Fragen wissenschaftlicher Erkenntnis, aber auch auf Fragen des Bewusstseins, der Psyche oder Seele findet und motivisch wie lebensstilistisch die Interpretation der Phänomene des Daseins übernimmt, wenn das „Thrattanische“ also als Lebensprinzip schlechthin erscheint, wird die Ratio kontaminiert – und daneben ihre mögliche Kohäsion (Verbindung, Homogenität) mit Ethik und Seelenlehre sabotiert.

Oder im Bilde gesprochen: Wenn die Magd dem Thales die Gedanken zensuriert, dann wird der Bauer zum Millionär.

Die oftmals verschlungenen Wege von rationalen Ideen über ihre Ökonomisierung bis hin zu einer (breiten, massenhaften) Nutzanwendung zu zeigen, wäre an sich eine Aufgabe für Wirtschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker, ganz allgemein lassen sich aber auch so ein paar Dinge darüber sagen.

Erfindungen und Entdeckungen sind am Anfang rational (womit die Methode von „Versuch und Irrtum“ sowie die Rolle des Glücks in der Forschung nicht ausgeschlossen werden soll), bis jemand kommt, der von der Sache meistens nichts versteht, aber über Geschäftssinn verfügt und auf das Rationale dahingehend Einfluss nimmt, dass die Entfaltung oder Weiterentwicklung der Ideen praktikable Gestalt annimmt.

In dieser Manipulation der Ratio liegt das eigentlich „thrattanische Moment“. Zur Veranschaulichung sei als nur ein Beispiel die Entwicklung des Automobils erwähnt: Ingenieure wie Benz, Maybach, Daimler, Diesel entwickelten und verbesserten die ersten Motoren auf rational denkender Basis. Das Automobil für Massen war kein Ideal oder Ziel!

Der Weg zur Autoindustrie und den Autobahnen führt schließlich über H. Fords Fließbandproduktion, die es ermöglicht, von seinem T-Modell binnen kurzem eine Millionenauflage herzustellen. Dazu gesellt sich Fords an sich völlig irrationaler, mafiöser Krieg gegen die Eisenbahn, später der Konkurrenzkampf der Autolobby gegen öffentliche Verkehrsmittel im Allgemeinen. Aktuellere Beispiele rund um Energiewirtschaft und Fortbewegung fallen sicher jedem selbst ein.

Das Rationale verkehrt sich also ins Irrationale und breitet über den angeblichen Nutzen – der bei genauerem Hinsehen oft nur Schaden anrichtet – eine Tyrannis des wirtschaftlich Funktionellen aus.

Für diese Tyrannis oder Ökonomisierung des Bewusstseins haben viele Menschen heute weitestgehend die Wahrnehmung verloren, so dass einer etwa beim Anblick einer Wiese zwanghaft den Quadratmeterpreis in der Region überschlägt, ein anderer beim Einkauf eines Gemäldes bereits an seinen zukünftigen Verkaufswert denken muss.

Das Kosten-Nutzen-Kalkül, das auf den persönlichen Erfolg schielt, die Mittel-zum-Zweck-Logik, welche für die Sache an sich den Blick verliert, kommt nicht selten auch vor Freundschaft, so wenn sich die Frage einschleicht: „Wozu ist der andere zu gebrauchen? Was stellt er in der Gesellschaft dar?“

Auch die romantische Liebe freier Wahl scheint seit einer Reihe von Wirtschaftskrisen jüngeren Datums dem Absicherungsdenken hinter der Bindung wieder immer häufiger weichen zu müssen. Die Renaissance einer gewissen Sittlichkeit der Sitte einer schon totgeglaubten Bürgerlichkeit bedeutet überhaupt eine eigentümliche Wiederbelebung des Nutzen-Kalküls in gesellschaftlichen Belangen; der gute Ton der falschen Gedanken kehrt zurück.

Für den Pragmatiker oder Utilitaristen (die nicht immer klipp und klar voneinander zu trennen sind) impliziert alles, was nützlich ist, auch das Wahre, und dieses ist dann das Gute, wohingegen das Wahre ohne einen Nutzen nichts für ihn ist.

Anstatt also sachlich oder rational zu sagen: das Wahre ist das Gute (egal ob  nützlich oder nutzlos), ist ein nutzloses Gut für ihn unvorstellbar. William James konnte sich von der Ansicht nicht trennen, dass etwas dann wahr sei, wenn es für uns nützlich sei, dies zu glauben (vgl. The Meaning of truth; A Sequal to Pragmatism).

Bei allem Nutzen, den die professionellen Pragmatiker wie Ch. S. Peirce, William James, John Dewey oder George H. Mead der Philosophie einst gebracht haben – und dieser Nutzen bestand in einer Überwindung von Überresten mittelalterlicher Metaphysik und religiöser Dogmatik -, baute ihr bodenständiger Rationalismus, der den Erfolg des Subjektes aus der Sache nicht raushalten kann, die Brücke zum ökonomisierten Bewusstsein des 20. Jahrhunderts.

Im Zuge des sich ausbreitenden Kapitalismus war es nur eine Frage der Zeit, bis dann auch Broker und Manager als Rationalisten gelten konnten. In deren Gestalt wird die Magd des Thales schließlich zur Tyrannin ihres Herren, des Gedankens.

Auguste Comtes Parole Wissen, um vorherzusehen, vorherzusehen, um handeln zu können (Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir) – eigentlich ein Ganoven-Motto – ist eine Maxime (des Utilitarismus) für Schlauberger aller Art. Aber wer würde sie heute nicht unterschreiben? Was an Brauchbarem vor ihren Füßen liegt, macht sich Thratta – die erdverbundene Bäuerin – mit Taschenrechner, Steuerberater, Winkeladvokaten und Freunderln in der Politik zunutze.

Ich glaube, es erübrigt sich, das eben Gesagte im Detail, etwa durch weitere Beispiele, zu erläutern, um die Existenz dieser (nur von mir so genannten) thrattanischen Welt zu beweisen.

Es ist evident, dass es sich um die Welt handelt, in der wir leben und – wie das Alter der Anekdote zu erkennen gibt – bis zu einem gewissen Grad immer schon gelebt haben. Aristoteles gibt in seiner Politeia von unserem Thales folgende Überlieferung weiter (Aristoteles, Politik 1259a):

Als man ihm wegen seiner Armut einen Vorwurf machte, als ob die Philosophie zu nichts tauge, habe er, sagen sie, da er aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse vorausgesehen hatte, dass die Olivenernte reichlich sein würde, noch im Winter mit dem wenigen Geld, das ihm zur Verfügung stand, als Handgeld, sämtliche Ölpressen in Milet und Chios für einen niedrigen Preis gemietet, wobei niemand ihn überbot. Als aber die Zeit [der Ernte] gekommen war und auf einmal und gleichzeitig viele Pressen verlangt wurden, da habe er seine Pressen so teuer verpachtet, wie er nur wollte, und auf diese Weise sehr viel Geld verdient: zum Beweise dafür, dass es für die Philosophen ein leichtes ist, reich zu werden, wenn sie dies wollen, dass es aber nicht das ist, was sie wollen.

Geht man also, um einen Abend zu überbrücken, besser zum Philosophen oder zum Wirtschaftstreibenden, wie die Frage meines geschätzten Schriftsteller-Kollegen H. Schönauer lautete?

Ich würde sagen, wer das rationale Gespräch sucht, um Sachverhalte möglichst objektiv zu klären, ist mit dem Philosophen im Allgemeinen besser beraten. Wer praktikable Tipps sucht, um einen raschen, persönlichen Nutzen aus einer Angelegenheit zu ziehen, mag sich mit dem Wirtschafter zusammensetzen.

Und wer klug ist, bleibt womöglich am besten zu Hause und liest die Dichter vergangener Tage. Sie sind nutzlos und bleiben doch wahr.

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Christoph Themessl

Christoph Themessl, Dr., geb. 1967 in Innsbruck, ist Schriftsteller, Philosoph und Journalist. Er arbeitete für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und war mit seiner Firma PR-Zeitungen Themessl als Magazin-Produzent fünfzehn Jahre lang selbständig. Zu seinen Publikationen zählen: „Der Tod kann warten“ (Roman; 1997), „Bewusstsein und Mängelerkenntnis; Philosophische Psychologie für die Praxis“ (studia Verlag, 2013), „Als die Seele denken lernte“ (studia Verlag, 2016) und „Sinn- und Sinnlosigkeit. Die Entscheidung des philosophischen Praktikers“ (LIT Verlag, 2021). Themessl betreibt in Lans eine philosophische Praxis namens „Safe House – das Sorgendepot“ und arbeitet in der Behindertenhilfe des Landes Tirol.

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