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Nicole Staudenherz
Dem Kriegsgeschehen ausgeliefert
Tiere in der Ukraine

Ein Jahr Krieg, das bedeutet ein Jahr Schmerz, Angst und Tod, vor allem für vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Kinder, Alte und Kranke. Die Berichterstattung zeigt immer wieder aufs Neue in schonungsloser Deutlichkeit die desaströse Lage, in der sich weite Teile der ukrainischen Zivilbevölkerung befinden. 

Doch das Leid einer ebenso verletzlichen Gruppe, der Tiere, spielt sich meist abseits der medialen Aufmerksamkeit ab. Dabei ist das tragische Los der nichtmenschlichen Kriegsopfer eine besonders abgründige Facette dieses Krieges (und vieler anderer Kriege) und darf nicht übersehen oder gar als Kollateralschaden hingenommen werden.

Wie es der bekannte Philosoph und Tierethiker Peter Singer in einem Essay zur Lage der Tiere in der Ukraine ausdrückt, dürfen wir

[…] Tiere nicht nur als Eigentum anerkennen, sondern als fühlende Wesen, deren Fähigkeit zu leiden und sich am Leben zu erfreuen ihnen einen moralischen Status verleiht. Der Angriff auf zivile Bereiche von Städten mit Artillerie oder Raketen ist ein Kriegsverbrechen, und dasselbe sollte auch für Angriffe auf Ziele wie Zoos, Ställe und Scheunen oder die Verhinderung der Fütterung von Tieren gelten.


Verlassen, verletzt, verhungert: Heimtiere

Irpin, März 2022. Eine junge Frau blickt hoch erhobenen Hauptes in die Kamera. Sie hält mehrere Hunde an der Leine. Einige der Tiere sind gehbehindert und können sich nur mithilfe eines Rollwägelchens fortbewegen. Im Hintergrund wird geschossen.

Diese emotionale Aufnahme von Anastasiya Tychoij ging um die Welt, wurde sogar zum Motiv für Kunstwerke und Illustrationen. Die unerschrockene Tierschützerin betreibt gemeinsam mit ihrem Mann ein Tierheim und engagiert sich für die Rettung und Rehabilitation von Hunden mit Behinderungen. Zeitweise war sie für über 70 Hunde verantwortlich. Vor allem die ersten Kriegswochen waren sehr hart für sie. Vorübergehend musste das Heim sogar evakuiert werden, und auch die Rückkehr war voller Gefahren:

[…] das Schlimmste war am Tag der Befreiung von Irpin. […] Wir hatten gerade einen Haufen Tiere eingesammelt, große Hunde, und dann begannen sie wieder mit dem Beschuss von Romaniwka und Irpin. Das war sehr gefährlich und wir dachten, wir würden nie wieder zurückkommen.

Glücklicherweise gelang die Rückkehr und viele der Hunde konnten mittlerweile an Tierfreunde in verschiedenen europäischen Ländern vermittelt werden. Doch kriegsbedingt kommen immer wieder neue Tiere dazu.

Anastasiyas Geschichte ist eine von vielen, ein Sinnbild für den selbstlosen Einsatz von Menschen, die Tag für Tag ihr Leben riskieren, um Tiere aus der Schusslinie zu retten. Zahlreiche engagierte Betreiber von Tierheimen und Lebenshöfen, aber auch tierliebende Privatpersonen harren im Kriegsgebiet aus, um die Vierbeiner in ihrer Obhut zu pflegen und zu versorgen. Bombenhagel, Besatzung und Entbehrungen zum Trotz.

Durch den Krieg ist ihre Arbeit nicht nur lebensgefährlich geworden, sondern hat sich auch vervielfacht. Einige Millionen Menschen sind seit Kriegsbeginn aus der Ukraine geflüchtet. Schätzungen zufolge musste fast ein Drittel der Geflüchteten ihre Heimtiere in der Ukraine zurücklassen. Die Folge ist, dass sich Millionen Tiere, die einst ein liebevolles Zuhause hatten, auf den Straßen durchschlagen müssen. In permanenter Lebensgefahr, der Witterung und dem Kriegsgeschehen schutzlos ausgeliefert.

Eine besonders dramatische Zuspitzung erfuhr die Lage in der Region, die von der Flutkatastrophe nach dem Dammbruch am Kachowka-Stausee betroffen ist. 

Tierschützer und Tierärzte wagten sich unmittelbar nach der Überflutung ins Hochwassergebiet, holten Katzen und Hunde von Hausdächern und Baumkronen. Eine Tierschützerin erzählt, dass sie auf der Rückfahrt die Scheinwerfer ausschalten mussten. Trotzdem wurden sie mit Drohnen beschossen. Doch die Helfer sind entschlossen, weiterzumachen, denn die Not ist groß:

Es gibt dort sehr viele Tiere, die Situation ist grausam für sie, man muss noch öfter dorthin, um möglichst vielen zu helfen. Viele sind schon wegen des Krieges heimatlos geworden, ihre Besitzer sind tot oder geflohen – und jetzt noch dieses Hochwasser.


Tödliches Taktieren: Tiere in der Landwirtschaft

Region Charkiw, Frühjahr 2022. Die Szenerie erinnert an einen geschmacklosen Katastrophenfilm. Doch es ist die Realität: Erschütternde Aufnahmen eines bombardierten Milchbetriebs zeigen tote Kühe, halb begraben unter Schutt und Metallteilen. Dazwischen einige noch lebende Tiere, die zwischen zerstörten Gebäuden und ausgebrannten LKWs umherirren. Der Boden ist schlammig, Nahrung und Wasser suchen sie hier vergeblich. Es scheint, als versuchten sie, das Unbegreifliche zu begreifen.

Auch abseits der Bombardements leiden Rinder, Schweine und Hühner. Es scheint, als würden landwirtschaftlich genutzte Tiere nicht nur vergessen, sondern schlichtweg verdrängt. Oder gar als strategisches Druckmittel eingesetzt. So widerfuhr es drei Millionen Hühnern, die verhungerten, weil die russischen Besatzer die Futterversorgung abgeschnitten hatten.

Die Lage ist sehr ernst, berichtet Mariya Yaroshko, die kommissarische Leiterin des Deutsch-Ukrainischen Agrarpolitischen Dialogs aus Kiew im Frühling 2022. Wir bekommen immer mehr Berichte über zerstörte Betriebe, und die Tiere leiden unter den Bombardierungen.

Die gelernte Tierärztin spricht auch von Bildern, auf denen herumliegende tote Tiere zu sehen sind, und von zerbombten Pferdeställen. In der Region Tschernihiw, so Yaroshko, hätten die russischen Besatzer einen Landwirt und seine Mitarbeiter drei Wochen lang nicht zu den Kühen gelassen. Es sei zu befürchten, dass die Tiere verhungert oder aufgrund ungeeigneten Futters zu Tode gekommen sind.

Yaroshko erwähnt auch, dass sich die Tierhalter in den umkämpften Gebieten gegenseitig mit Futtermitteln aushelfen oder bei Stromausfällen von Hand melken. Darüber hinaus werde die gegenseitige Hilfe vom ukrainischen Agrarministerium koordiniert. Dennoch sei es auch vorgekommen, dass kleine Landwirte überstürzt flüchten mussten und in der Not ihre Tiere einfach aussetzten.

Diese Schilderungen sind nur die Spitze des Eisbergs: Im November 2022 erschien eine Übersichtsarbeit der Kiev School of Economics zu den Folgen des Krieges auf den Agrarsektor. Die Autoren schätzen die Zahl der Agrartiere, die in den ersten Monaten des russischen Angriffskriegs an Bombardements, Hunger oder anderen kriegsbedingten Ursachen gestorben sind, auf etwa 95.000 Schafe und Ziegen, 212.000 Rinder, 507.000 Schweine sowie 11,7 Millionen Hühner und andere Geflügeltiere. Darüber hinaus wurden 400.000 Bienenvölker vernichtet, das entspricht etwa 17% des ukrainischen Bienenstockbestandes.

Aus Tierschutzsicht stehen viele Formen und Praktiken der landwirtschaftlichen Tierhaltung, darunter ganz besonders die Intensivhaltung in Tierfabriken, ohnehin schon lange in der Kritik. Diesbezüglich ist die Ukraine leider keine Ausnahme. 

Durch den Krieg wird das ohnehin schon systemimmanente Tierleid nun potenziert. Angesichts der Kriegswirren offenbart sich deutlicher denn je die Schwäche eines Systems, das Tiere en masse einsperrt, nutzt und tötet und dabei auf gigantische Futtermengen angewiesen ist, um just in time zu produzieren.


Eskalierender Ökozid: Wildtiere

Nationalpark Tuzly. Frühjahr und Sommer 2022. Ivan Rusev, Forschungsleiter im Tuzly National Nature Park im Südwesten der Ukraine, schlägt Alarm. Normalerweise, so Rusev, würde er vielleicht drei oder vier tote Delfine entlang der 44 km langen Küstenlinie des Parks finden. Als der Krieg begann, wurde der Großteil der Küste vom Militär gesperrt. Zwischen dem 24. Februar und Ende August 2022 entdeckten er und seine Kollegen 35 tote Meeressäuger entlang der noch zugänglichen 5 km langen Küstenlinie.

Ähnliche Beobachtungen von anderen Orten an der Schwarzmeerküste zeichnen ein ähnlich düsteres Bild. Zählt man alle verfügbaren Zahlen zusammen, wurden bis Mai 2022 etwa 2.500 tote Delfine an Land gespült. Da die meisten Tiere jedoch nach ihrem Tod auf den Meeresgrund sinken und rechnerisch nie erfasst werden, geht Rusev davon aus, dass die tatsächliche Zahl viel höher ist. Auch andere Organisationen rund um das Schwarze Meer haben einen dramatischen Anstieg festgestellt.

Die Hauptursache ist laut Rusev ein akustisches Trauma, das durch das verstärkte Auftreten von Schallwellen unter Wasser verursacht wird. Unter Verdacht steht insbesondere der Einsatz von Sonar durch die Marine. Delfine nutzen zur Navigation und Kommunikation nämlich eine biologische Form des Sonars, die Ökolokation. Pfeifend, quietschend, summend und klickend nehmen sie Kontakt zu Artgenossen auf. Ein sensibles System, das durch menschliche Aktivitäten Schaden nehmen kann.

Es ist sehr bezeichnend, dass die Massenstrandungen fast unmittelbar nach dem russischen Angriff begannen, sagt Pavel Goldin vom Schmalhausen-Institut für Zoologie in Kiew. Er bestätigt, dass das Muster der Massenstrandungen fast unmittelbar nach dem russischen Angriff begann. Wir nehmen die Hypothese eines akustischen Traumas ernst. Wir haben große Anstrengungen unternommen, um akustische Traumata zu erkennen und zu erforschen.

Dass Wildtiere und ihre Habitate durch das Kriegsgeschehen in der Ukraine schwer geschädigt werden, ist leider keine Neuigkeit. Schon 2018 stellt ein Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) angesichts der damaligen Kämpfe in der Ostukraine fest:

Der anhaltende bewaffnete Konflikt – einer der blutigsten in Europa seit den Balkankriegen der 1990er Jahre – hat den lokalen Ökosystemen eine weitere Ebene erheblicher und teilweise irreversibler Schäden hinzugefügt.

Schon während der kriegerischen Auseinandersetzungen im Jahr 2014 haben Naturschutz-Institutionen Personal verloren. Das habe, so der Bericht, zu einer Verschärfung von Missständen wie massiver Wilderei, illegalen Abholzungen und Verletzungen der Umweltgesetze geführt. UNEP-Analystin Dr. Leila Urekenova stellt fest:

Der Donbas steht am Rande einer ökologischen Katastrophe, die durch die Verschmutzung von Luft, Boden und Wasser infolge der Verbrennung großer Mengen von Munition bei den Kämpfen und durch Überschwemmungen in Industrieanlagen verursacht wird. Es besteht ein dringender Bedarf an ökologischer Überwachung, um die durch den bewaffneten Konflikt entstehenden Umweltrisiken zu bewerten und zu minimieren.

Durch das aktuelle Kriegsgeschehen erfuhr die Lage erneut eine dramatische Zuspitzung. In einem neueren UNEP-Bericht aus dem Jahr 2022 heißt es:

Zwanzig Prozent aller Naturschutzgebiete der Ukraine sind von dem aktuellen Konflikt betroffen. Nahezu eine Million Hektar geschützter Gebiete sind betroffen, und 812 spezifische Standorte in Schutzgebieten sind bedroht. Rund 160 Gebiete des Emerald-Netzwerks mit einer Fläche von 2,9 Millionen Hektar, 14 Ramsar-Gebiete mit einer Fläche von etwas weniger als 400.000 Hektar sowie vier Biosphärenreservate sind ebenfalls bedroht.

Konkret bedeutet das: einzigartige Urwälder und andere kostbare Naturlandschaften, die mitsamt den darin lebenden Tieren abgebrannt sind oder anderweitig zerstört wurden; zahlreiche Säugetier-, Vogel- und Insektenarten, die wegen Habitatvernichtung an den Rand des Aussterbens gedrängt werden; kontaminierte Landstriche, in denen die Gesundheit von Mensch und Tier massiv gefährdet ist.


Hilfe leisten, trotz allem

Angesichts dieses niederschmetternden Gesamtbildes scheint jede Hilfe zu wenig. Und doch: Eine Tiroler Gruppe aus tierschutzbewegten Menschen hat kurz nach Beginn des Ukrainekrieges im vergangenen Jahr ein Hilfsprojekt initiiert, das die Unterstützung für Hunde, Katzen und menschliche Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellt.

Seit damals fanden mit der tatkräftigen Unterstützung durch Partner-NGOs wie dem Hafen der Rettung in Polen und der Ukrainehilfe Tirol in Innsbruck mehrere Tonnen Hilfsgüter ihren Weg ins Kriegsgebiet: Tiernahrung, medizinisches Material, Stromgeneratoren, Decken, Schlafsäcke und Kleidung halfen Menschen und Tieren, die unerträgliche Situation zumindest zeitweise etwas abzumildern.

Eine Aktivistin aus der Gruppe meint dazu:

Das unermessliche Leid in der Kriegsregion erschüttert mich immer wieder aufs Neue. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, Anteil zu nehmen und zu helfen, wo ich kann. Während ich hier in Sicherheit bin, setzen die ukrainischen Helfer:innen ihr Leben aufs Spiel, um die leider oft vergessenen Kriegsopfer, die Tiere, aus schrecklichen Notlagen zu retten. Wir vom VGT Tirol werden alles in unserer Macht stehende tun, um den Tieren in der Ukraine und ihren engagierten Beschützer:innen zu helfen.

Für das weitere Gelingen des Projekts ist jede Hilfe willkommen: Gesammelt wird derzeit Trockenfutter für Hunde und Katzen.

Abgabestelle 0-24: Die Tierfutter-Spenden können in Innsbruck, Bachlechnerstraße 46 auf der Nordseite des Getränkemarktes T&G in einem gekennzeichneten Verschlag abgestellt werden. Die Nummer des Vorhängeschlosses ist 6020.


Quellen:
„How the war in Ukraine is killing marine mammals“, bbc.com/future/article/20221222-how-the-war-in-ukraine-is-killing-marine-mammals
„Artenschützer besorgt: Wie der Krieg in der Ukraine seltene Wildtiere bedroht“, deine-tierwelt.de/magazin/artenschuetzer-besorgt-wie-der-krieg-in-der-ukraine-seltene-wildtiere-bedroht
„Ukraine’s Donbas bears the brunt of toxic armed conflict“, unep.org/news-and-stories/story/ukraines-donbas-bears-brunt-toxic-armed-conflict
„The Environmental Impact of the Conflict in Ukraine: A Preliminary Review“, unep.org/resources/report/environmental-impact-conflict-ukraine-preliminary-review
„The Nonhuman Victims of Putin’s War“, project-syndicate.org/commentary/ukraine-animal-victims-of-russia-invasion-by-peter-singer-and-oleksandr-todorchuk-2022-04
„Tiere als Kriegsopfer und ‚Helden‘“, topos.orf.at/leben-im-krieg-hunde100
„Vergessene Kriegsopfer: Tiere in der Landwirtschaft leiden millionenfach“, vgt.at/presse/news/2022/news20220405mn_2.php
„Wie Tiere in der ukrainischen Landwirtschaft unter dem Krieg leiden“, geo.de/natur/tierwelt/wie-tiere-in-der-ukrainischen-landwirtschaft-unter-dem-krieg-leiden-31764120.html
Neyter, R., Stolnikovych, H., Nivievskyi, O. (2022), „Agricultural War Damages Review Ukraine: Rapid Damage Assessment“, Kiev School of Economics, kse.ua/wp-content/uploads/2022/06/Damages_report_issue1-1.pdf
Neyter, R., Nivievskyi, O., Litvinov, V., Boganos, M. (2022), „Agricultural War Damages Review Ukraine Issue 2“, Kiev School of Economics, kse.ua/wp-content/uploads/2022/11/Damages_report_issue2-1.pdf

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Nicole Staudenherz

Nicole Staudenherz, geb. 1976 in Innsbruck, verheiratet, Betreuerin autistischer Kinder, Pflegerin bei den Sozialen Diensten Innsbruck, Pflegehelferin bei Tirol Kliniken, Diplom. Gesundheits- und Krankenschwester Tirol Kliniken, LKH Natters und Hochzirl, inzwischen hauptberufliche Kampagnenleiterin des Vereins gegen Tierfabriken (VGT).

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