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Marcel Looser
Hybris – die Anmassung mächtiger Männer
Essay

Nachdem die Strafexpedition des Perserkönigs Dareios I. – die Athener waren den Griechenstädten an der kleinasiatischen Küste beim Aufstand gegen die Perser mit einigen (20) Schiffen zu Hilfe gekommen – gescheitert war (Marathon 490 v.Chr.), wandte sich sein Sohn Xerxes I. 483 v.Chr. zum Rachefeldzug erneut Griechenland zu, und auch er sollte nach anfänglichen Erfolgen (Thermopylen) unterliegen (Seeschlacht von Salamis 29.Sept. 480 v.Chr., endgültige Niederlage des Landheeres bei Plataiai im Sommer 479 v.Chr.) – den ersten historisch belegten Ost-West-Konflikt hatte der freiheitliche «Underdog» aus dem Westen gegen den mächtigen Tyrannen aus dem Osten für sich entschieden.

Der Historiker Herodot (ca.490 bis 430v.Chr.) – unsere Hauptquelle – schildert als eine der Ursachen für die Niederlage der Grossmacht der Perser die Reaktion des Xerxes, als ein gewaltiger Sturm die Brücken, die er zur Übersetzung seines Heeres über den Hellespont (Dardanellen) hatte bauen lassen, zerstörte – der Hellespont ist die naturgegebene Grenze zwischen Asien und Europa: «Als Xerxes das (von der Zerstörung) hörte, ergrimmte er und befahl, den Hellespont durch 300 Geisselhiebe zu züchtigen, auch ein Paar Fussfesseln ins Meer zu versenken …. und er sprach die rohen gottlosen Worte: Du bitteres Wasser! So züchtigt dich der Gebieter, weil du ihn gekränkt, der dich doch nie gekränkt hat. König Xerxes wird über dich hinweggehen, ob du nun willst oder nicht …» (Hist. VII, 34; Übersetzung A. Horneffer, Stuttgart 1971)

Was für eine Hybris, was für eine Anmassung, was für eine Selbstüberschätzung des Grosskönigs!

Der Tragiker Aischylos verwendet den Stoff im 472 v.Chr. aufgeführten Stück «Persai», dem ältesten erhaltenen Drama der Welt – eigentlich ganz untypischerweise. Den Stoff für die antiken Tragödien bildeten sonst die tradierten Mythen. Dass hier Zeitgeschichte aufgegriffen wurde, zeigt die Relevanz des Themas.

Der Geist des toten Dareios erscheint gegen Ende des Stücks (681ff.) seiner Gattin Atossa und klagt die Hybris seines Sohnes Xerxes an (Züchtigung des Meeres, Zerstörung von Heiligtümern und Raub der Götterbilder), der Chor bricht in Wehklagen aus und weist auf die Mütter hin, die ihre Söhne verloren haben, und auf die jung verheirateten Gattinnen, die nun Witwen sind.

Xerxes kehrt allein in zerrissenen Kleidern und mit leerem Köcher in der Hand zurück – seine Leute sind krepiert, zu Lande und zu Wasser – er hat die Blüte seines Volkes in den Hades geschickt (908ff.).

In der Nacht zum 24.Juni 1812 liess Napoleon Bonaparte drei Schiffsbrücken bei Kaunas (Kowno) über die Memel (Njemen) errichten und setzte am Tag mit seiner Grande Armée (ca.450’000 Mann – die grösste Armee, die Europa bis dahin gesehen hatte) nach Russland über. Zar Alexander I. hatte aus wirtschaftlichen Gründen die Kontinentalsperre gegen Grossbritannien nicht mehr mitmachen wollen.

Nachdem die Armee durch Versorgungsengpässe, Ruhr, Desertion, Schnee und Kälte bereits dezimiert worden war, nahm Napoleon nach dem Pyrrhussieg von Borodino (28’000 Tote auf Napoleons Seite) zwar Moskau ein. Fehlender Nachschub, Krankheiten und ständige Angriffe der russischen Kosaken setzten den französischen Truppen jedoch sehr zu – der Zar hatte Verhandlungen verweigert, Moskau war – wahrscheinlich von den Russen selbst – in Brand gesetzt worden.

Am 28. Nov. 1812 wurde die Grande Armée an der Beresina endgültig zerschlagen – nur noch 18’000 Soldaten übertraten im Dezember 1812 die preussische Grenze an der Memel, Napoleon war schon vorher nach Paris geflohen!

Am 17.Dez.1812 (noch während des Rückzugs) vermeldete der kaiserliche Hof : «La santé de Sa Majesté n’a jamais été meilleure.» (Die Gesundheit seiner Majestät ist niemals besser gewesen.)

Die Liste dieser «Wahnsinnigen» liesse sich beliebig vermehren, die grössten Verbrecher unter ihnen weist wohl das 20.Jahrhundert auf – Hitler hat es Napoleon nachgemacht, hat in seiner Verblendung die Warnungen seiner Generalität in den Wind geschlagen. Stalingrad ist das Mahnmal. Auch in diesem Feldzug sind die Menschen auf beiden Seiten zu Tausenden und Abertausenden verhungert, erfroren, elendiglich ums Leben gekommen – die Folge der Wahnideen des «Führers».

«Die deutsche Kriegsführung im Russlandfeldzug sollte sich schnell zu einem umfassenden Völkermordprogramm entwickeln, wie es die Welt noch nie gesehen hatte.» (Ian Kershaw).

Diese ungeheure Brutalität, diese grenzenlose Menschenverachtung entsetzt uns immer wieder von Neuem und lässt uns fassungslos zurück.

Während in anderen Weltregionen – von Vietnam bis Syrien – die bewaffneten Auseinandersetzungen auch nach dem 2.Weltkrieg weitergingen, haben wir, die Nachkriegsgeneration, nun in Westeuropa seit mehr als 70 Jahren keinen Krieg mehr erlebt, er ist in diesen Breitengraden fast unvorstellbar geworden. Für unsere Kinder und Grosskinder verlieren sich die oben geschilderten Greuel im Nebel der Geschichte. Doch ist die neue «paradiesische» Zeit auch für uns bald wieder vorbei?

Die Schrecken der Zukunft werden nicht nur die Klimakatastrophe, der Kampf um die Ressourcen, die Überbevölkerung, das Flüchtlingselend u.a. sein, zu diesen an sich schon ungeheuren Herausforderungen an die Menschheit kommt, dass in immer mehr Ländern wieder oder immer noch autoritäre Strukturen aufscheinen, dass das demokratische Korrektiv von den Mächtigen unterhöhlt wird, dass diese «Führer» das demokratische Mäntelchen kaum noch nötig haben, sie ihre Macht wieder offen und frei von Skrupeln zeigen und auch rücksichtslos ausüben – ob es sich dabei um Putin in Russland, Erdogan in der Türkei, die Mullahs im Iran, oder um welche auch immer der heutigen «Alleinherrscher» handelt. Begriffe wie «Aufklärung, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Pressefreiheit» scheinen ihre Bedeutung verloren zu haben.

Das Tragische dabei ist, dass viele Leute diese Haltung als «Stärke» missdeuten. Gerade in unsicheren Zeiten geben sie die eigene Verantwortung ab und schlagen sich auf die Seite dieser äusserst gefährlichen Männer. Beim Betrachten eines Parteitages der KP Chinas, in dem die Abgeordneten marionettenhaft ihrem «Führer» zuklatschen, läuft es einem kalt den Rücken hinunter.

In den USA haben demokratische Wahlen das Land und die Welt von Donald Trump befreit. Der chinesische Machthaber Xi Jinping hingegen liess sich auf Lebenszeit wählen: Was für eine Verblendung muss diesen Mann erfasst haben! Wird er tatsächlich einen Weltkrieg riskieren, um das kleine Taiwan unter seine Kontrolle zu bringen, und so seine Macht- und Kontrollgelüste zufriedenzustellen?

So scheint die Welt – angeführt von machtbesessenen, gestörten Männern – wieder unaufhaltsam auf eine Katastrophe zuzusteuern: Die grossen alten Begriffe der Antike «ἄτη (Ate: Verblendung, Verhängnis), ὕβριϛ (Hybris: Übermut, Frevel, bedenkenlose Gewalt) und δίκη (Dike: Recht, Strafe)» treten deutlich hervor: Der Mensch zerstört in seiner Verblendung die Welt und sich selbst, indem er bedenkenlos über die ihm gesetzten Grenzen hinausgeht – die Folgen davon (Dike) werden jedoch nicht einen Einzelnen oder seine «Clique», sondern schlimmstenfalls die ganze Menschheit treffen. Eine fast schon griechischeTragödie.

Πολλὰ τὰ δεινὰ κ’ οὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει. (Sophokles, Antigone, 332 f.): Vieles ist ungeheuer, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch!

28. Nov.

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Marcel Looser

Marcel Looser, Geb. 1950, lebt in Dietlikon bei Zürich, Altphilologe und Indogermanist, Gymnasiallehrer (Latein und Griechisch) a.d., Schulpräsident der Gemeinde Dietlikon a.d., als solcher Gewinner des Schweizerischen Schulpreises.

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