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Marta Marková
Gedächtnis der Nation
Erinnerungen
anlässlich des tschechischen Nationalfeiertags

Während meines „Arbeitsaufenthaltes“ in Mähren wurde ich eines Tages gefragt, ob ich bereit zu einem Interview für die gesamtstaatliche Dokumentation Paměť národa/Gedächtnis der Nation wäre. Soll ich oder soll ich nicht, fragte ich mich. Ja, ich bereitete mich vor und dachte nach, worauf ich die um Jahrzehnte später Geborenen besonders aufmerksam machen sollte.

Man war sehr nett zu mir. Ich konnte mir die Aufnahmetermine aussuchen. Ich wurde abgeholt und nach Mährisch Schönberg gebracht, in das Aufnahmestudio. Und dieses entpuppte sich zu meiner Überraschung als ein Raum im katholischen Pfarrhaus neben der Kirche des Heiligen Martin.

Da fühlte ich mich sofort zuhause. Jeden Teil des verdammten Steinpflasters in diesem alten Teil der Stadt kannte ich – und das Pflaster erkannte mich wohl auch wieder. Neben dem Pfarrhaus steht das Gebäude meiner ehemaligen Volksschule und darunter war die berühmte Stiege, wo ich jeden Winter meine Schultasche als Rodel benutzte. Denn die Stiege den Hügel hinunter wurde im Winter kaum geräumt. Und war daher eine ideale Rutschbahn für eine schnelle Fahrt nach Hause.

Das gesamte Anwesen des Pfarrhauses sieht heute anders aus, es ist gründlich renoviert. Als sieben- achtjähriges Kind war ich aus Neugierde mit meiner tiefgläubigen Freundin Ludmila heimlich in die Religionsstunden gegangen. Es war eigentlich ein Spaß, weil wir aufgefordert wurden, unsere Sünden aufzuschreiben. So saßen wir in der alten Veranda, jede in einem Eck, und wetteiferten, wer mehr Sünden zum Beichten mitbringen konnte.

Unser Pfarrer hatte uns in den kommunistischen 1950-er Jahren aber auch zu guten Taten animiert, zu aktiver Hilfe für unsere Mitmenschen, vor allem für die Alten. Für jede geleistete Hilfe durften wir uns eine Kerze auf einen Baum in das Religionsheft malen. Und wieder entwickelte sich ein Wettbewerb: Die Menschen flohen fast schon in Panik vor uns und unserer aufdringlichen Mildtätigkeit. Die Alten hielten ihre Einkaufsnetze fest in der Hand und drückten sie an die Brust.

Unser Pfarrer, ein untersetzter und gütiger Mann, fand aber bald nicht mehr viel Zeit für uns. Eines Tages kam er einfach nicht mehr und wir hörten nur, dass er wegen seiner Verbindung mit Rom, zum Vatikan, verhaftet und in der Strafanstalt für politische Häftlinge in Mírov/Mürau, einer alten Bischofsburg aus dem 12. Jahrhundert, eingesperrt war.

Sein Abgang bedeutete auch das Ende meiner innigen Freundschaft mit Ludmila. Ihre Familie (sie wohnte einen Stock unter uns) war eines Tages aus der Stadt verschwunden. Ich erinnere mich nicht an den Umzug, höchstwahrscheinlich war ich gerade in der Schule. Ob dieser Umzug freiwillig oder gezwungen erfolgte,  weiß ich ebenso nicht mehr. Man hörte nur, dass die Familie in einen ganz anderen Teil der Republik gezogen war, nach Nordböhmen. Nur von Ludmila wusste ich, dass auch sie über ihren Onkel, den Bruder ihres Vaters, in Kontakt mit Rom stand, mit dem Vatikan.

Nach der 9. Klasse arbeitete ich in den zwei Ferienmonaten im städtischen Buchladen als Verkäuferin. Zu meiner Aufgabe gehörte es auch, die Bücher einzureihen und die staatliche Zeitschrift Knižní novinky / Buchneuigkeiten mit Kundenadressen zu versehen. Aus dieser Kundenkartei erfuhr ich, dass unser Pfarrer noch am Leben und aus der Haft entlassen worden war und wieder als Seelsorger in der Nähe von Mährisch Schönberg arbeitete. In meiner damaligen pubertären Stimmung konnte ich meine Freude nicht anders ausdrücken als seinen Nachnamen Konečník zu streichen und daneben ganz leserlich zu schreiben: Rectum: „Konečník“ – also in lateinischer Sprache. Meine so ausgedrückte Freude musste wohl dem aus der Arbeiterklasse rekrutierten Geheimdienst des Kreises Mährisch Schönberg Kopfzerbrechen bereitet haben, ob das doch nicht eine geheime Botschafts des Vatikans wäre? Trotzdem kam die Zeitschrift im Dorf Dolní Studénky / Schönbrunn an, wo der Pfarrer lebte. Wie konnte ich nur so etwas tun? Das frage ich mich noch heute.

Von meinem ersten „Gehalt“ besorgte ich für ihn – als ein Dankeschön für die kostenlosen Englischstunden – eine dicke englische Enzyklopädie und ließ sie ihm über meinen Vater persönlich zukommen. Warum habe ich es nicht selbst gemacht? Ich musste nachdenken, wo ich vor 53/54 Jahren gerade war: auf meinem ersten journalistischen Praktikum in Südböhmen?

Was die beiden Männer – mein Vater und der Pfarrer – damals miteinander sprachen, habe ich nie erfahren, weil mein Vater kurz darauf starb. Meine Eltern, meine Geschwister, eigentlich fast niemand wusste, dass ich in den 1960er Jahren heimlich in das Pfarrhaus wegen des Englisch-Unterrichts gegangen war. Ob der Pfarrer noch von meiner Reportage über die zwangsinternierten Klosterschwestern in Nordmähren erfahren hat? Hat er sie gelesen? 1968 war dies die erste Nachkriegsreportage zu dem Thema.

Ein Nebengebäude des Pfarrhofs war mit seinen zwei Zimmern tagsüber ein Kindergarten oder Kinderhort. Dort fand das Post Bellum Team Unterschlupf für seine Dokumentation. Der Historiker, der auch als Redakteur arbeitete, und der Techniker hatten in einem der Zimmer ihr provisorisches Aufnahmestudio aufgebaut: in der Mitte eine viereckige schwarze Kabine.

Etwas Ähnliches aus Stoff und Spagat hatte ich mir vor 55 Jahren in einem Prager Studentenheim um mein Bett und meinen Kasten herum aufgestellt. In der winzigen Zelle des Teams befanden sich ein Sessel, ein Mikrofon und eine Stehkamera. Als Interviewte saß ich dort allein. Mein Interviewparner und der Techniker befanden sich außerhalb, waren jedoch durch ein Loch in der Stoffwand mit mir verbunden. Auf diese Weise standen sie mit mir akustisch in Verbindung. Die starke Beleuchtung verhinderte aber jeden Blickkontakt. Ich konnte die beiden nicht sehen, zudem war ich gerade durch eine starke Augenentzündung etwas sehbehindert. Der Historiker war stolz auf seine Konstruktion – ich freilich weniger, da sie mich emotional an die verdammten 1950-er Jahre erinnerte.

Ich sollte erzählen, man werde fragen und alles werde aufgenommen – so hatte man mir versichert. Das ist eine uralte journalistische Masche. Man lässt das Tonband laufen, dann schneidet man und nimmt, was man braucht. Ein Freund von mir machte damit seine journalistisch-schriftstellerische Karriere. Ich fand diese Form zu billig, da ich als Schreibende recherchieren muss, um etwas Neues zu finden und es dann weiterzugeben.

Und ja, so erzählte ich: konzentriert auf das Familiäre, auf Nordmähren, mit dem Spezifikum der „Sudetendeutschen“, auf das folgende „Dritte Reich“ und die Nachkriegsvertreibung der Deutschsprachigen. Ich erzählte von der sich nach 1945 entwickelnden Zusammensetzung der Bevölkerung, bestimmt von der Zuwanderung aus dem Landesinneren; von den neuen politischen, sozialen und mentalen Konflikten, von dem monströsen Schauprozess gegen Ärzte am Ende der 1950er Jahre in Mährisch Schönberg, über den man bis heute schweigt. Ich wollte dazu beitragen, dass darüber endlich gesprochen wird. Während des Erzählens sprang ich des öfteren spontan aus der isolierten Bude und erschreckte die beiden Zuhörer, den Historiker und den Techniker.

Ersterer gilt als Experte für die Regionalgeschichte. Vor mehr als sechs Jahren, noch voll von Begeisterung, dass die übernächste Generation die Vergangenheit nun endlich unter der Lupe nimmt, hatte ich eine kurze Rezension seines Buches „Zapomenutí svědkové. Osudy lidí ze Šumperska, Staroměstska a Zábřežska“ (Vergessene Zeitzeugen. Menschenschicksale aus Mährisch Schönberg, Altstadt und Hohenstadt an der March) verfasst. Ich hatte ihm ein Exemplar dieses seines Buches mitgebracht, um es signieren zu lassen. Im Geiste Václav Havels malte er mir auch noch ein Herzchen hinein.

Bei dieser Aufnahme von Post Bellum sollte nichts geschnitten werden, alles sollte bleiben, da man den Vorwurf von Manipulation vermeiden wollte. So wurde es mir erklärt, als ich kleinere sprachliche Ungenauigkeiten nachträglich entfernen wollte…

Dies alles spielte sich fast genau zu dem Zeitpunkt ab, als sich die tschechischen Medien prominent mit dem 1.100 Jahrestag der politisch motivierten Ermordung der heiligen Ludmila im Jahr 921 an ihrem Wohn – und Zufluchtsort Tetín bei Beroun / Beraun beschäftigten. Es fanden dazu eine internationale Konferenz statt, aber auch Wallfahrten, viel mediale Aufmerksamkeit. Am Höhepunkt der kirchlichen Feierlichkeiten über die erste getaufte Christin, Großmutter und Erzieherin des heiligen Václav / Wenzeslaw, wurde dem Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn von Tetíns Bürgermeister Martin Hrdlička eine genealogische Urkunde überreicht, die bestätigt, dass er – Schönborn – ein direkter Nachfahre der heiligen Ludmila sei!

Wie sich doch die Geschichte aus politisch motivierten Gründen immer wieder beliebig drehen und wenden lässt! Was wäre, wenn die Vertreiber und Mörder der Jahre 1945 und folgende der Zeremonie im Jahre 2021 beigewohnt hätten? Und nicht nur ihre Nachkommen?

Schönborn, geboren im Jänner 1945 im Schloss Skalka (seit 1796 im Besitz der Familie Schönborn), wurde im Alter von neun Monaten mit seiner Mutter Eleonore Schönborn und seinem zweijährigen Bruder Philipp vertrieben. Die verwitwete Großmutter mütterlicherseits Gertrud von Doblhoff / von Skutezky (1891-1945), starb im Juni 1945 in Prag, in einem tschechoslowakischen Lager, errichtet für die Deutschen, die vertrieben werden sollten.

Eleonore Schönborn stammte aus einem mährischen Dorf Račice/Ratschitz bei Vyškov/Wischau, wo sie mit ihren Eltern und Geschwistern lebte, bis zu ihrer Verehelichung mit Hugo Damian, Graf von Schönborn. Ihr Großvater, der Vater ihrer Mutter, ein Arzt und Fabrikant, entstammte der jüdischen Familie „von Skutezky“. 1916 hatte er in Wischau ein Lazarett begründet, welches noch heute besteht. Als das „Dritte Reich“ die Tschechoslowakei teilte und besetzte, waren aus allen Familienangehörigen Bürgerinnen und Bürger des „Deutschen Reiches“ geworden. 1942 heiratete Eleonore in Brünn Hugo-Damian Schönborn. Bald danach musste dieser zur Deutschen Wehrmacht einrücken – im Unterschied zu den Bürgern des Protektorates Böhmen und Mähren. 1944 desertierte er, und Eleonore Schönborn kam unter die Aufsicht der Gestapo. 1945 wurde, weil sie Deutsche waren, ihr gesamter Besitz konfisziert.

Und wie war Schönborns Reaktion auf das ihm feierlich überreichte Zertifikat? Wie war sein Kommentar? Sehr verkürzt: Wir sind alle Nachkommen von Adam und Eva.

Die Nachkriegs-Tschechoslowakei war keine Ausnahme bei der Lösung ethnischer Probleme. Wie die Deutschsprachigen und auch die Ungarn in der Tschechoslowakei wurden Deutsche aus Polen und Ungarn und Jugoslawien vertrieben – aus letzterem auch Italiener , ebenso die Polen aus der Ukraine, aus Weißrussland und Litauen. Der Zweite Weltkrieg hat nicht nur die politische, sondern auch die ethnische Landkarte Europas verändert. Die Tschechoslowakei hatte mit der Vertreibung der Deutschen schon im Mai und Juni begonnen, bevor noch die Konferenz in Potsdam dies im Juli 1945 abgesegnet hatte.

In dieser Zeit wurden an die 800.000 Deutschsprachige aus der ČSSR vertrieben. Die Morde an den „Sudetendeutschen“ – in České Petrovice, Lanškroun, Praha, Poděbrady, Postoloprty, Ústí nad Labem, Vysoké Mýto, Žatec und anderswo – erinnerten an die Massaker, die von deutschen NS-Besatzern überall in Europa verübt worden waren. Während des Brünner Todesmarsches vom 30. Mai 1945 starben von 26.000 Vertriebenen 1.700 Menschen.

Ich kehrte nach der Aufnahme für Post Bellum aus Mährisch Schönberg in das Dorf meiner „österreichischen“ Großmutter zurück, in das vom kommunistischen Regime in den 1950-er Jahren konfiszierte Anwesen, das ich seit 24 Jahren als „Gastarbeiterin“ renoviere. Was sollte ich da und dort? Das verdammte Steinpflaster im alten Teil Mährisch Schönbergs kenne ich – und es kennt mich; auch die Menschen, die mich nicht grüßen.

Eine Geschichte, die man lieber vergessen würde?

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Marta Markova

Marta Marková, Kulturpublizistin und Autorin, geb. in Spieglitz/Špiklice (Tschechische Republik), lebt heute in Wien und Innsbruck. Studium an der Prager Karlsuniversität, Tätigkeit als Journalistin, Verlags-und Hörfunkredakteurin. 1980 Flucht nach Österreich, ab 1989 Kulturpublizistin für den ORF, für die Wiener Zeitung, den Standard und für tschechische und slovakische Medien (Aspekt). Sie forschte u.a. zu „Kafkas Freundin“ Milena Jesenská und Alice Rühle-Gerstel, Milenas Freundin, und war Lektorin für die Tschechische Sprache am Institut für Slawistik der Universität Innsbruck. Demnächst erscheint im Innsbrucker Limbus Verlag das Kulturbuch "Daheim – und doch nicht zu Hause. Kochen im fremden Land."

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