Literarische Korrespondenz
Marcel Looser an H.W. Valerian
Betrifft:
Die "Elite" Österreichs aus der Sicht eines Schweizers
Sehr geehrter Herr Valerian!
Herzlichen Dank für Ihre Replik auf meinen Beitrag zur politischen Kultur im österreichischen Parlament und in den Medien, insbesondere im ORF.
Wie es bei Ihnen im Parlament, ein ihrer Aussage nach „funktionsloses“ mit Steuergeldern finanziertes Gremium von 183 Nationalratsabgeordneten und 61 Mitgliedern des Bundesrates, zu und her geht, dessen war ich mir als naiver Schweizer natürlich nicht bewusst – so habe ich wenigstens etwas gelernt.
Es ist in der Schweiz tatsächlich etwas anders, da die Regierung aus Mitgliedern aller wichtigen Parteien besteht und deshalb die Legislative mit wechselnden Mehrheiten die anstehenden Gesetze tatsächlich diskutiert.
Dass es Aufgabe der Presse ist, als sogenannte Vierte Gewalt der Politik auf die Finger zu schauen, auch davon habe ich als weltabgewandter, ihrer Aussage nach naiver Mensch (Altphilologe) noch nie gehört.
Was mich einerseits an der Parlamentsdiskussion und am Interviewstil von Armin Wolf, andererseits auch an ihrer Replik stört, ist der herablassende, besserwisserische und moralisierende Ton, der respektlose Umgang miteinander.
Warum haben diese Menschen es nötig, andere herabzuwürdigen – fühlt man sich danach besser? «Der Hass vergiftet die Seele.“ (Liana Millu, Holocaust-Überlebende, 1914 – 2005).
Dass Österreich nur «schwafelnde, in zähflüssigem Redeschwall» argumentierende Politiker kennt, denen die Fakten wie «Zähne extrahiert werden müssen», gibt doch ein sehr trauriges Bild ihrer Republik ab – ich habe ein anderes Bild von ihrem Land, aus eigener Erfahrung und durch meine Freunde.
Ein Spiessbürger stellte sich Diogenes in den Weg: «Ich weiche keinem Schurken aus!» Diogenes trat zur Seite: «Aber ich!»
Mit freundlichen Grüssen
Marcel Looser