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Manfred A. Schmid
Eifersucht und Untreue im Haus Almaviva
Ein Sittenbild
„Le nozze di Figaro“an der Wiener Staatsoper

11. März 2023. Große Spannung und spürbare Vorfreude schwängern die Luft. Da tritt Staatsoperndirektor Roscic vor den Vorhang: Die Sopranistin Ying Fang sei wegen Stimmbänderproblemen nicht in der Lage, die Premiere zu singen, habe sich aber bereit erklärt, den Part der Susanna auf der Bühne zu spielen, während Maria Nazarova vom Orchestergraben aus dazu singen werde. Ein schwerer Schlag.

Ausgerechnet Susanna, die in Barrie Koskys Inszenierung die zentrale Figur des Ganzen darstellt, ist von dieser Besetzungsänderung betroffen. Dazu kommt, dass das angekündigte Hausdebüt der aus China stammenden Sängerin, die bei der Figaro-Matinee bereits eine erste Kostprobe ihres Könnens gegeben hat, besonders hohe Erwartungen ausgelöst hat.

Da aber – dank des beherzten Einspringens Nazarovas und der nicht hoch genug einzuschätzenden darstellerischen Mitwirkung von Ying Fang – die Regiearbeit Koskys weitgehend erhalten bleiben kann, steht einem außergewöhnlichen Opernabend somit nicht mehr viel im Wege. Soviel sei an dieser Stelle schon verraten: Er sollte ein guter Erfolg werden.

Nazarova, bisher an der Staatsoper im Figaro die Barbarina vom Dienst, zeigt als Retterin der Aufführung, dass sie durchaus auch das Zeug für die Susanna hat. Besonders in einem Besetzungsumfeld wie dem vorliegenden, das ein Fest der feinen, nicht der ganz großen Stimmen verspricht und auch einhält.

Ying Fang kann ihre komödiantischen Fähigkeiten voll ausspielen. Das gelingt ihr – trotz der sie gewiss heimsuchenden Enttäuschung, bei der Premiere nicht singen zu können, und trotz der ernsthaften Sorgen wegen des aktuellen gesundheitlichen Zustands – bewundernswert gut.

Ihre Susanna ist die treibende Kraft im Hause der Almavivas, wenn sie etwa nach dem großen Krach Graf und Gräfin sich resolut und selbstbewusst zwischen Graf und Gräfin hinsetzt und die Rolle der Mediatorin übernimmt, oder gewitzt auf Almavivas Avancen mit einem wohldosierten neckischen Flirt reagiert und ihm mit einer langstieligen Blume zu Leibe rückt. Immerhin dient das der Sicherung der ihr von ihm versprochenen Mitgift.

Wie schon seit einiger Zeit üblich, wird Philippe Jordan, der musikalische Leiter der Aufführung und bis 2025 auch weiterhin Musikdirektor des Hauses, schon beim Hereinkommen stürmisch gefeiert. Ausdruck hoher Wertschätzung, zugleich wohl auch eine schallende Ohrfeige für jemand anderen.

Er ist es auch, der beim Schlussapplaus einen Blumenstrauß zugeworfen bekommt, den er aber auf den Souffleurkasten legt und mit einer ausladenden Handbewegung seinem Orchester widmet. Ein kammermusikalisch durchflutetes Mozart-Ensemble wie nach dem 2. Weltkrieg gibt es an der Staatsoper derzeit noch nicht. Dass das Orchester aber ein erstklassiges Mozart-Orchester ist, daran besteht kaum Zweifel. Die vielen Duette und die großen Ensembleszenen, insbesondere das Finale des 3. Akts, gestaltet Jordan mit viel Feingefühl. Die rasante Ouvertüre, in der Mozart, anders als üblich, nicht mit Motiven aus später erklingenden Arien und Ensembles aufwartet, sondern in einem eigenständigen, dynamisch bewegten, mitreißenden Vorspiel die Grundstimmung der Oper herbeizaubert, wird feurig dargeboten.

Nach der Ouvertüre öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf die Bühne. Wer noch von der bedrückenden Lavalandschaft in Don Giovanni, mit dem Barrie Kosky vor drei Jahren seine Mozart-Da Ponte-Trilogie gestartet hat, geschädigt ist, darf aufatmen.

Zu sehen ist ein apart ausgestatteter, nicht üppig überladener Rokoko-Palast (Bühne Rufus Didwiszus), der die inzwischen verstrichenen Jahrhunderte gut überstanden hat. Alle Personen der Handlung tragen moderne, fantasiereich gestaltete, standesgemäße Unterschiede betonende Kleider (Kostüme Victoria Behr).

Dass die Handlung damit nicht automatisch in die Jetztzeit versetzt wird, wird ziemlich bald klar und ist kein Problem. Das íus primae noctis, um das es hier geht, war ja auch zur Barockzeit, in der die Oper ursprünglich angesiedelt ist, schon lange nicht mehr aktuell, wird aber gewiss von bestimmten Herrschaften bis heute immer wieder umzusetzen versucht.

Barrie Koskys Le nozze di figaro ist stets identisch mit der Oper, wie sie Mozart und sein kongenialer Librettist Lorenzo da Ponte der Welt hinterlassen haben, und erzählt die Handlung so, wie sie im Libretto vorgegeben ist. Von einem zu Recht gefürchteten, umschreib- und überschreibbesessenen Regietheater kann hier jedenfalls keine Rede sein.

Für den einsamen Buhrufer, der im Begeisterungsjubel am Schluss hoffnungslos untergeht, kann das nur bedeuten: Aufwachen, hinhören und genau hinschauen. Was da geboten wird, ist 100 Prozent Mozart, aber auch 100 Prozent Kosky. Und das ist kein Widerspruch, sondern verweist auf die Könnerschaft des für seine tiefgründige Ausleuchtung der Charaktere und die bis ins letzte Detail wohlüberlegte Personenführung geschätzten Regisseurs.

Nur der vierte Akt, in dem alle handelnden Personen in ein von Susanna und der Gräfin raffiniert ausgehecktes Versteckspiel involviert sind, bei dem die Männerwelt, in erster Linie aber der Herr Graf, für ihre Eifersucht und Untreue eine Lektion erteilt bekommen, fällt bühnenmäßig etwas aus dem Rahmen.

Das Laubwerk der Bäume ist hier auf dem Boden eines erhöhten, die Bühne ziemlich ausfüllenden Podests aufgemalt. Wenn die Personen nacheinander auftauchen, müssen sie erst eine Klappe öffnen und herausklettern, um dann wieder darin zu verschwinden. Was am Anfang recht possierlich wirkt, alsbald jedoch seinen Reiz verliert und dann nur noch anstrengend, zum Glück aber auch bald schon wieder vorbei ist, wenn der große Perdono-Entschuldigungsreigen einsetzt.

Hanna-Elisabeth Müller, die Donna Anna in Barrie Koskys Don Giovanni, ist eine der feinen, nicht gerade großen Stimmen, die den Abend gesanglich prägen. Diesmal singt sie die in ihrer Liebe betrogene Gräfin. Verzweiflung als Grundstimmung verbindet beide Figuren. In der überaus komödiantischen Handlung verkörpert sie die tragische Note, die als Kehrseite der Komik für die kontrastierende Grundierung sorgt.

Wenn sie beim Aktschluss allein auf der Bühne in einer Ecke übrigbleibt, während alle anderen schon längst abgetreten sind, offenbart sich ihr tiefer Seelenschmerz und ihr allmähliches Versinken in Einsamkeit. Empfindungen, wie sie sie zuvor schon in ihrer Arie Porgi, amor, qualche ristoro beschworen hat. Kammermusikalisch berührend.

Ihr Gatte, der flatterhafte Graf Almaviva, wird von Andrè Schuen als ziemlich unreifer, verantwortungsloser, in seiner Ehre leicht gekränkter und in seiner Entwicklung steckengebliebener Schwerenöter vorgeführt. Besonders intelligent scheint er auch nicht zu sein und dadurch leicht hinters Licht zu führen. Ein ichbezogener Narziss, wie er von Figaro in der Cavatina Se vuol ballare Signor Contino trefflich charakterisiert wird.

Schuen singt mit einem wohltimbrierten, leicht abgedunkelten Bariton, der ihm eine verführerische Note verleiht. Die im dritten Akt essenzielle Arie Hai già vinta la causa gelingt dem aus Südtirol stammenden Sänger mit ladinischen Wurzeln gut. Insgesamt eine solide Leistung.

Das noch junge Ensemblemitglied Peter Kellner ist ein sympathischer, agiler Figaro, der es wagt, seinen Herrn, Graf Almaviva, bei seinen amourösen Abenteuern mit findigen Winkelzügen in die Quere zu kommen, am Ende aber erkennen muss, dass es seine Braut Susanna ist, die die entscheidenden Schritte gesetzt hat. Ein Sänger/Darsteller, der auch schon als Leporello seine komödiantischen Fähigkeiten auf der Bühne der Staatsoper überzeugend ausgespielt hat und mit seiner unbändigen Spiellaune und auch stimmlich mit seinem wendigen, klaren Bariton punkten kann.

Eine wahre Freude ist die vielseitige Patricia Nolz als konstant für erotische Verwirrung sorgender Cherubino, der mit seiner androgynen Figur die Handlung bereichert. Die Szene, als Cherubino von der Gräfin und Susanna als kleiner Vamp mit Strapsen ausgestattet wird, offenbart seine die traditionellen Geschlechterrollen überschreitende Persönlichkeit.

Die Arietta Voi che sapete che cosa è amor ist seine gesangliche Visitenkarte, und die bewusst gesetzten Misstöne im Hochzeitschor Amanti costanti, seguaci d’onor der jungen Mädchen und Frauen im Finale des 3. Akts verfehlen ihre komische Wirkung nicht. Patricia Nolz ist schon 2020 in einer Produktion des Theaters an der Wien als Cherubino auf der Bühne gestanden und hat diese Rolle auch schon an der Staatsoper, damals noch als Mitglied des Opernstudios verkörpert. Da warten gewiss noch viele interessante Herausforderungen auf sie.

Wie Patricia Nolz gehört auch Josh Lovell zu den jungen Ensemblemitgliedern, die schon nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht haben. Als intriganter Don Basilio sorgt er für komische Auftritte, die dankbar mit Lachern quittiert werden. Zur sprühenden Heiterkeit trägt auch Stefan Cernyals Don Bartolo an der Seite von Stephanie Houtzeel (Marcellina) bei, die in letzter Zeit an der Wiener Staatsoper als luxuriöse Standardbesetzung in den Rollen schräger bis ausgeflippter, nicht mehr ganz so junger Damen zum Einsatz kommt und stets auf gediegene, maßgeschneiderte Gestaltungen wertlegt.

Johanna Wallroth als Barbarina kommt ursprünglich aus dem Opernstudio und gestaltet ihre von Kosky durch ein herzhaftes Techtelmechtel mit Cherubino etwas aufgewertete Rolle mit Inbrunst und Verve. Der Bass Wolfgang Bankl bringt als bodenständiger Gärtner Antonio seine langjährige komödiantische Erfahrung gekonnt ins Spiel, der italienische Tenor Andrea Giovannini gibt den schrulligen Richter Don Curzio, der bei Kosky ausnahmsweise nicht als stotternder Trottel in Erscheinung tritt, sondern ein an Asthmaanfällen Leidender ist, der sich ständig Spray zuführen muss. Anerkennung verdient der von Martin Schebesta wie gewohnt trefflich einstudierte Chor.

Koskys Vorhaben, eine unterhaltsame, komödiantische Inszenierung auf die Bühne zu bringen und hin und wieder tragische Facetten aufblitzen zu lassen, geht voll auf.

Begeisterter Applaus im ausverkauften Haus. Für ein Fest der ganz großen Stimmen langt es nicht, aber es ist ein Fest der feinen, großen kleinen Stimmen, und auch so etwas gibt es nicht alle Tage.

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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