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Manfred A. Schmid
Wirklich nur ein „Hauch von Venus“
Zur österreichischen Erstaufführung von
Kurt Weills erfolgreichstem Broadway-Musical
in Graz

Kurt Weill gelang mit „One Touch of Venus“ ein beachtlicher Erfolg am Broadway. Mehr als 500 Vorstellungen zeigten dem Immigranten, der nach seinen spektakulären Erfolgen mit „Die Dreigroschenoper“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ nach der Machtübernahme des Naziregimes aus Berlin flüchten musste, dass er nun endlich auch musikalisch voll in seiner neuen Heimat New York angekommen war.

Dennoch hatte es das am Pygmalion-Stoff angelehnte Musical eher schwer, sich auf den Bühnen international durchzusetzen. Die Zahl der Neuproduktionen ist überschaubar. Dass es bis zur österreichischen Erstaufführung rund sechzig Jahre gedauert hat, ist nur ein weiterer Beweis dafür.

Wirklich nur ein „Hauch von Venus“ Zur österreichischen Erstaufführung von Kurt Weills erfolgreichstem Broadway-Musical in Graz

Weills satirisch angehauchte musical comedy, in der die spießige Welt der amerikanischen Suburbia feinsinnig und witzig karikiert wird, war schon bei der Uraufführung nicht unumstritten. Was Jahrzehnte später Stephen Sondheim unternahm, nämlich die Themenlandschaft amerikanischer Musicals höchst originell zu erweitern und zu bereichern, findet sich schon bei Weill und seinen Textautoren Ogden Nash und S.J. Perelman angelegt, wurde damals aber wohl als zu kühn empfunden.

Umso mehr ist zu würdigen, dass Graz sich dazu entschlossen hat, sich dieses genialen Werks anzunehmen. Dass die Umsetzung leider zu wünschen übriglässt, steht auf einem anderen Blatt.

Ein Hauch von Venus ist ein modernes Märchen im Broadway-Stil. Die Statue der Liebesgöttin Venus, die von dubiosen Schmugglern in das Haus ihres Auftraggebers, eines reichen Kunstliebhabers, gebracht worden ist, erwacht zum Leben, nachdem ein netter junger Friseur ihr beiläufig den eben für seine Braut gekauften Verlobungsring über den Finger gestreift hat.

Das Leben des eher einfach gestrickten amerikanischen Durchschnittsbürgers wird durch die nach 3000 Jahren aus der Erstarrung befreite Venus, die sich – wohl aus Dankbarkeit – ihm gegenüber erotisch verpflichtet fühlt und sich in ihn, trotz seiner Biederkeit, verliebt, gehörig durcheinandergebracht.

Wirklich nur ein „Hauch von Venus“ Zur österreichischen Erstaufführung von Kurt Weills erfolgreichstem Broadway-Musical in Graz

Nachdem Venus dank ihrer Zauberkraft seine Braut, die ihn mit ihrer Mutter eifersüchtig unter Druck setzt, in die Verbannung auf den Nordpol geschickt hat, wird er des Mordes beschuldigt und landet, wie auch Venus, im Gefängnis. Aus dem Gefängnis entwichen, kommt es zur göttlichen Liebesnacht.

Als der Friseur ihr erzählt, wie er sich ihr gemeinsames Leben in einem Häuschen mit Garten und Kindern in einer Suburb (Vorstadt) vorstellt, beschließt sie, dem Leben als typische amerikanische Hausfrau doch lieber eine Rückkehr in den Olymp vorzuziehen.

Die Himmelfahrt der Venus in einer Muschel à la Botticelli gehört zu den besser gelungenen Einfällen der Regie, kann aber die vielen Mängel der Inszenierung nicht vergessen machen. Das beginnt schon damit, wie die dramaturgisch wichtige Initial-Szene mit der Erweckung der Statue gelöst wird. Die Statue selbst bekommt man nie zu Gesicht. Nur ihre marmorweißen Finger ragen aus der Transportkiste hervor. Nachdem der Ring über einen Finger übergestreift worden ist, findet sich die Venus als eher unauffällig dunkelblaugrün gekleidete Dame auf der Bühne ein, während die Finger weiterhin aus der Kiste winken.

Die Chance, die unter Donner und Blitz erfolgte Verwandlung und Erweckung effektvoll auszuspielen, ist damit vertan und verkümmert zu einem belanglosen Episödchen. Stattdessen konzentriert Magdalena Fuchsberger sich darauf, die innere Welt, die Seelenlandschaft des Herrn Friseurs namens Rodney gedankenschwer auf die Bühne zu bringen.

In ihrer Interpretation leidet der nämlich an den Folgen eines schweren Traumas, ausgelöst durch die überraschende Begegnung mit der Dame aus der Götterwelt. Diese hinterließ lauter Trümmer in seinem Inneren, und die Bühne von Monika Biegler ist folglich ein Eisengerüst, das mit riesengroßen Trümmern der Statue der Venus von Milo bestückt ist, an denen andauernd herumgeschliffen, gehämmert und poliert wird: Restaurateurinnen als Psychotherapeuten bei der Arbeit. Da wird dem guten Friseur wohl zu viel Seelenqual zugemutet. Gequält wird hier eher nur das – bei der Premiere sehr duldsame – Publikum.

Ein weiterer Fokus der Regie speist sich aus der Erkenntnis, dass das Musical 1943, also mitten im Zweiten Weltkrieg, zur Uraufführung gebracht worden war. Das muss doch Spuren im Werk hinterlassen haben. Die Metallkonstruktion wird daher flugs zu einer Rüstungsfabrik umgedeutet, wo Frauen für den Krieg arbeiten (Biegler).

Die in Trümmern liegende Venus ist dann auch eine Art Kriegslandschaft in Rodneys Traum, und die Arbeit an den Venusteilen macht diese zu einem Teil der Kriegsmaschinerie und zu Waffen der Frau. Davon hatten Weill, Nash und Perelman, die in erster Linie auf einem geistreichen, hohen Niveau unterhalten wollten, wohl kaum eine Ahnung. Erst das Grazer leading team hat die metapyhsische Grundierung ihrer künstlerischen Zusammenarbeit entdeckt und auf die Bühne gebracht.

Dass die lächerlichen Figuren, die, als Panzer, Bazookas und Bomben verkleidet, herumstolzieren und auch ein peinliches Kriegsballett aufführen (Choreographie Alexander Novikov), ist in Zeiten, in denen 400 km von Graz entfernt tatsächlich ein grausamer Krieg zum Alltag geworden ist, einfach peinlich.

Die rhythmisch betonten und fein orchestrierten Balletteinlagen – es gibt neben amerikanischen Tänzen wie Foxtrott auch Walzer – gehören zu einem amerikanischen Musical einfach unabdingbar dazu und haben mit dem Brecht/Weill-Song Soldaten wohnen auf den Kanonen aus der Dreigroschenoper nichts mehr zu tun.

Das Ergebnis: Hier wird keine Geschichte erzählt, sondern Szenen werden bruchstückhaft aneinandergereiht. Die Einzelteile fügen sich nicht zu einem Ganzen. Auf der Bühne geht alles in Trümmer. Und hinter dem Eisengerüst und den Trümmern versucht Aron Kitzig mit Videos, auf denen ein Bild von Picasso und Franz Marcs Blaues Pferd dekonstruiert und ebenfalls in Puzzleteile zerlegt werden, die Begeisterung von Whitelaw Savory, dem die Venus eigentlich gehört, für moderne Kunst auf die Bühne zu bringen. Verlorene Liebesmühe, denn man bekommt vom Dargebotenen wenig zu sehen.

Wirklich nur ein „Hauch von Venus“ Zur österreichischen Erstaufführung von Kurt Weills erfolgreichstem Broadway-Musical in Graz

Erst nach der Pause wird die kuriose Handlung etwas greifbarer. Der absurde, operettenhaft inszenierte Besuch des anatolischen Gesandten bei Venus in ihrer Gefängniszelle, der sie zur Rückkehr in ihre Heimat als angehimmelte Statue überreden will, und das Gespräch Rodneys mit dem Gefängnisarzt, beide von Michael Großschädl dargestellt, zeigen, worum es den Schöpfern des Musicals ging. Witzige Kritik am amerikanischen Way of Life im Besonderen und am Zustand der Welt im Allgemeinen. Und das in Form von Unterhaltung der anspruchsvollen Art.

Der Mittelpunkt der Handlung sollte eigentlich die abgöttisch schöne, verführerische und lebens- und liebesfreudige Venus sein. Leider ist der bereits erwähnte erste Auftritt kein gutes Omen, und in weiterer Folge bestätigt sich der Verdacht, dass mit Dionne Wudu keine Idealbesetzung für diese zentrale, geheimnisvolle Göttin, die Fleisch geworden ist, gefunden werden konnte.

Kurt Weill hatte für die Uraufführung an Marlene Dietrich gedacht und die Diva erfolglos umworben. Es muss ja nicht eine Ikone sein, aber etwas Ausstrahlung wäre da schon von Vorteil. Damit kann Wudu nicht aufwarten. Sie ist das, was eigentlich nur ihr Erwecker Rodney sein sollte, nämlich ein – bis auf seine in dieser Inszenierung verordneten feuerroten Haare – nicht besonders auffälliger, aber irgendwie doch sympathischer Durchschnittstyp.

Auch gesanglich tritt sie nicht außergewöhnlich in Erscheinung, in der Höhe nicht sehr stark und ausdrucksmäßig nicht sehr farbenreich. Sie ist okay. Und das ist – für diese Rolle – zu wenig. Ihre wechselnden Kostüme von Valentin Köhler sind auch nicht dazu angetan, sie im Getümmel hervorzuheben. Es dauert bis knapp vor dem Ende, bis sie in einer Garderobe auftritt, die Glamour versprüht.

Christof Messner, Preisträger des Lotte Lenya-Wettbewerbs 2018 und Kurt Weill/Lotte Lenya-Künstler ist ein passabler Rodney Hatch. Eine Verkörperung des Vororte-Amerikaners der 40-er Jahre, der sich seine Frau nur als Hausfrau und Mutter seiner Kinder vorstellen kann, die brav auf ihn wartet, bis er von der Arbeit nach Hause kommt. Etwas fantasielos und naiv. Das Duett Speak low (Rede leise) mit Venus, ein Evergreen, den u.a. auch Barbra Streisand eingesungen hat, geht in Ordnung, ist aber nicht der erwartete musikalische Höhepunkt des Abends. Wenn er seine Liebe zu Venus besingt, verwendet Rodney merkwürdige Bilder: Er liebt sie jedenfalls – so will es der für seine komischen Reime berühmt-berüchtigte Ogden Nash – mehr als ein Nagel schmerzt oder eine Grapefruit spritzt. Und man glaubt es ihm auch.

Whitelaw Savory, der Kunstkenner und überzeugte Verfechter der Avantgarde, der sein Wissen in Kursen an interessierte Leute weitergibt und die antike Venus-Statue nur besitzen will, weil sie ihn an seine Verflossene erinnert, ist mit Ivan Orescanin besetzt. Nach einem etwas mühsamen Beginn erreicht er in der Moritat vom Mörder Dr. Crippen seine Bestform: Das ist, wie von Weill intendiert, nicht vom Broadway inspiriert, sondern erinnert an die Moritaten aus der Zeit seiner Berliner Jahre mit Bert Brecht. Stilechter Brecht/Weill. Chapeau.

Seine Vertraute, Sekretärin und Beraterin, Molly Grant, ist die einzige, die durchschaut, dass die Frau, die die Welt durcheinanderwirbelt und fast auf den Kopf stellt, identisch mit der verschwundenen Venus-Statue ist. Monika Staszak macht ihre Sache gut, auch wenn sie von der Operette kommt und den Musical-Ton nicht ganz trifft.

Corina Koller und Regina Schörg sind als Rodneys Verlobte Gloria und deren Mutter schwer erträgliche, laute Karikaturen. Rodney muss Venus ewig dankbar sein, dass sie ihre Verbindung auseinandergebracht hat.

Das Erfreulichste an diesem Grazer Musicalabend ist das Orchester unter der Leitung von Marcus Merkel. Ob Broadway-Sound oder Berliner Dreigroschenoper-Anklänge, dieser amerikanische Kurt Weill mit all seinen stilprägenden Eigenheiten und von ihm selbst genial instrumentiert, wird von den Grazer Philhamonikern mit Verve und großem Können dargeboten. Das mitreißende Medley aus dem Vorspiel zum 2. Akt ist ein Hörerlebnis der Sonderklasse. Das allein schon wäre einen Besuch dieser Aufführungsserie wert.

Das ist gewiss nicht der perfekte Hauch von Venus. Kann es den überhaupt geben? Vermutlich nicht. Die rare Gelegenheit, nun hierzulande – nach Lady in the Dark an der Volksoper – erstmals auch sein Musical One Touch of Venus kennenzulernen, sollte man sich – trotz aller Unvollkommenheiten in dieser Inszenierung – nicht entgehen lassen.

Fotos: Oper Graz/Werner Kmetisch

 
 

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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