Manfred A. Schmid
Von einem, der in die Staatsoper einzog, um uns das Fürchten zu lehren.
Ein kritischer Rückblick auf die Neuproduktionen im ersten Jahr von Bogdan Roscic als Direktor der Wiener Staatsoper.

Vorbemerkung

Wegen der Corona-Krise konnte der neue Staatsoperndirektor Roscic nicht alle seine Vorhaben verwirklichen. Die hier gezogene Bilanz der Saison 2020/21 ist dennoch legitim, denn beurteilt werden kann ohnehin nur Verwirklichtes und nicht – aus welchen Gründen auch immer – unerledigt Gebliebenes.

Da Besetzungen von Tag zu Tag wechseln, liegt das Augenmerk bei diesem Rückblick nicht auf der Beurteilung der jeweils gebotenen sängerischen und darstellerischen Leistungen, sondern es geht vor allem um das, was bleibt: nämlich die Regie, die Inszenierung, das Bühnenbild, die Ausstattung – also das, was uns weiterhin im Repertoirebetrieb begegnen, erfreuen oder auch ärgern wird.

Daher wird – bis auf wenige Ausnahmen, die ein besonderes Licht auf die inszenatorischen Gegebenheiten werfen, mit denen sich die Sängerinnen und Sänger konfrontiert sehen – die Kritik der Ausführenden auf der Bühne und im Orchestergraben ausgespart. Auffällig ist, dass in den im Online Merker (www.onlinemerker.com) erschienenen Rezensionen, die die Basis dieses Rückblicks bilden, in der Überleitung zur Kritik des Ensembles oft davon die Rede ist, dass nach den fundamentalen Einwänden zu Regie und Bühnenbild wenigstens die musikalische Seite der besprochenen Aufführung in der Regel zufriedenstellend bis exzellent war…

Schließlich sei betont, dass der Rezensent, was Neuinszenierungen betrifft, nicht grundsätzlich gegen Neudeutungen ist, wenn sie in sich schlüssig sind und sich als tragfähig erweisen, wie aus der nachstehend abgedruckten „Butterfly“-Kritik hervorgeht. Nur Regietheater um jeden Preis wird abgelehnt. Davon gab es in der vergangenen Saison aber leider mehr als genug.

Mehrmals moniert wird auch, dass fast alle Neuinszenierungen der ersten Saison von Roscic eigentlich eingekaufte Restposten sind, die die Staatsoper zu einer Art Museum – man könnte auch sagen: Deponie – ausrangierter Regietheaterproduktionen aus den vergangenen 25 Jahren machen. Ein Haus mit Reputation sollte aber wohl in erster Linie mit Eigenproduktionen auf sich aufmerksam machen.



Puccinis „Madama Butterfly“ oder Der Herr Direktor als geschickter Einkäufer (Premiere 7.9.2020)

Anmerkung: Da in diesem Ausnahmefall nicht von der Premiere berichtet wird, sondern von einer Tage später erfolgten Aufführung, wird auf eine erneute Auseinandersetzung mit der damals ohnehin schon breit abgehandelten Inszenierung verzichtet. In den Ausführungen zur Gestaltung der Titelpartie aber wird dennoch einiges über die Regie ausgesagt.

Gleich vorneweg: Madama Butterfly entpuppt sich, trotz einiger Einschränkungen, als Opernereignis. Das liegt – neben der bereits ausgiebig beschriebenen und – bis auf eine Ausnahme – gelobten Inszenierung (und Choreographie) von Anthony Minghella – vor allem an der betörend singenden und spielenden Asmik Grigorian in der Titelpartie, die sie mit starker innerer Beteiligung gestaltet.

Ihre Stimme ist voll edler Süße und überquellender Liebe, vermag aber auch Zorn und Ungehaltenheit packend auszudrücken. Zu Puccinis Lebzeiten waren es oft vor allem dramatische Soprane, die diese Rolle übernahmen. Doch gehört bei der Butterfly auch ein starkes lyrisches Moment dazu, um das Mädchenhafte, Zarte dieser Figur zu unterstreichen. Und das gelingt Grigorian hervorragend.

Dass ihr Sopran in der Höhe, wenn sie dramatische Gefühlsausbrüche gestaltet, spitz klingen soll: Mag sein, ist an diesen Stellen aber durchaus am Platz und wirkt nicht im Geringsten unangenehm. Die litauische Sängerin verfügt zudem über eine imponierende Atemkontrolle und kann dadurch faszinierende, feine Pianissimo-Bögen spannen.

Nicht zu vergessen schließlich ihre schlanke Figur und ihr jugendliches Aussehen, was sie zu einer perfekten japanischen Geisha macht, auch wenn sie dabei nicht, wie üblich, klischeehaft trippelnd daherkommt: Diese junge Frau ist nämlich entschlossen, ihre unleidige, ihr im Überlebenskampf aufgezwungene Geisha-Existenz ein für alle Mal hinter sich zu lassen und an der Seite ihres Mannes zur Amerikanerin zu werden.

In manchen Inszenierungen wundert man sich zudem über die Naivität Butterflys, die knapp bis zum Schluss an ein Happyend zu glauben scheint. In Grigorians Interpretation spürt man früh, wie sehr ihr bewusst ist, von Pinkerton verlassen worden zu sein, und dass ihr unbeirrtes Festhalten an seiner Rückkehr nur eine Fassade ist: Ein Selbstbetrug. Vielleicht aber auch Symptom einer zunehmenden geistigen Zerrüttung, ausgelöst vom Schock, die grausame Wahrheit erfahren zu haben.

Kurz: Das ist eine Butterfly, die von dem üblichen Rollenbild, das die Besucher und wohl auch einige Kritiker erwartet und dann offenbar schmerzlich vermisst haben, abweicht und eine etwas andere, aber durchaus stimmige und hochinteressante Lesart anbietet. Wer davon nicht berührt ist, muss einen sehr verhärteten Panzer haben oder sich gegenüber Neudeutungen von Vornherein abschotten wollen. (…)



Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ oder Museales aus der Geschichte des Opern-Regietheaters (Premiere 12.10.2020)

Warum das Risiko einer Neuproduktion wagen, wenn man bequem einfach shoppen gehen kann. Dies mag dem Staatsoperndirektor Bogdan Roscic durch den Kopf gegangen sein, als er die Premieren für die erste Saison seiner Direktionszeit zu planen begann. Gesagt getan. Und mit Anthony Minghellas Londoner Madama Butterfly aus dem Jahr 2005 landete er gleich einen Volltreffer, der das Publikum noch lange erfreuen wird.

Nun, mit der Präsentation der zweiten, diesmal in Stuttgart eingekauften Premiere sieht die Sache mit der gewitzten Shoppingtour schon etwas anders aus: Die Inszenierung von Mozarts Die Entführung aus dem Serail von Hans Neuenfels hat über zwanzig Jahre auf dem Buckel und entpuppt sich bei der Premiere als Ladenhüter aus der Blütezeit des Regietheaters am Ende des vergangenen Jahrhunderts/Jahrtausends. Diese Entführung wird dem Repertoire noch lange schwer im Magen liegen.

Was tut ein Regisseur, wenn ihm einmal partout nichts einfallen will? Er greift in die Trickkiste des Regietheaters und zaubert den „Dopplereffekt“ hervor: Die handelnden Personen eines Stücks – einer, zwei oder alle – bekommen ein mehr oder weniger identisches Gegenüber an ihre Seite gestellt. Damit ließen sich, so die Begründung, die Konflikte und Widersprüche, die in der Psyche eines Menschen miteinander streiten, anschaulich auf die Bühne bringen. Das hat oft genug auch tatsächlich gut funktioniert. Kein Wunder, Ferdinand Raimund war einer der ersten, der das in einer etwas sublimeren Form in seinem Alpenkönig und Menschenfeind umgesetzt hat.

Inzwischen aber, weil zu oft angewendet, ist dieses Wundermittel längst schal und zum Schlafmittel geworden. Derzeit versucht man dem Dopplereffekt mit dem Einsatz von Puppen neues Leben einzuhauchen. Einen der jüngsten Versuche in diese Richtung unternahm Nikolaus Habjan, indem er am Theater an der Wien der Titelfigur der Salome eine sie stets begleitende Puppe zugesellte. Bei der derzeitigen Inflation von Puppen auf den Bühnen ist auch hier ein baldiges Ende vorhersehbar.

Dessen ungeachtet gibt es genug Gründe für den Verdacht, dass der Dopplereffekt, wie er 1998 von Neuenfels in Stuttgart angewendet und allseits gelobt wurde, schon damals misslungen war, weil er das falsche Objekt betraf. Die handelnden Personen in Mozarts Singspiel sind von Anfang an keine Persönlichkeiten, sondern Typen. Schablonen also, denen in der Handlung und in den dürftigen Texten von Christoph Friedrich Bretzner und Johann Gottlieb Stephanie wenig Platz für eine Entwicklung eingeräumt werden.

Dass es so eine Entwicklung aber doch gibt, liegt einzig und allein an der musikdramatischen, psychologisch ungemein feinfühligen Herangehensweise Mozarts, der in den Arien und Duetten die Tiefen der Seelen meisterlich auszuloten versteht.

Neuenfels misstraut aber offenbar dieser Kraft der Musik, auf die er sich verlassen sollte, und versucht die Textgrundlage zu verändern, d.h. zu erweitern, und führt die Verdopplung der Personen ein. Konstanze, Blonde, Belmonte, Pedrillo und Osmin bekommen so je einen Schauspieler/eine Schauspielerin an ihre Seite gestellt. Das verstärkt empfindlich das in diesem Singspiel ohnehin vorhandene Ungleichgewicht zwischen Musik und Text. Neuenfels fügt den an sich schon banalen Dialogen in seiner Fassung weitere banale Phrasen hinzu, was sogar dazu führt, dass eine Szene zweimal gespielt und gesprochen (!) wird – von den Sängern und den Schauspielern.

Damit zieht sich alles quälend noch mehr in die Länge, der Text – es gibt auch auf Englisch gesprochene Passagen – verdrängt die Musik und macht sie zur Nebensache. Dazu trägt auch ein furchtbar peinlicher Vogeltanz einer Kinderschar bei. Der Versuch, mit Wendungen wie „me too“ dem mediokren Text einen Anschein von Aktualität zu geben, führt nicht zum Ziel. Alsbald wartet man – genervt und ermüdet vom Palaver und Getue und viel zu lange – nur noch auf die dazwischen erklingende, erlösende Musik.

Die musikalische Seite dieses Premierenabends bietet zum Glück Gelegenheit, auch über Erfreuliches zu berichten (…)



Tschaikowskys „Eugen Onegin“ oder Wiederaufgewärmt ist nur beim Gulasch gut (Premiere 25.10. 2020)

Auch die dritte Premiere der Startsaison von Bogdan Roscic ist eingekaufter Ramsch. Der nun als Ersatz für die umstrittene, bisher im Repertoire stehende Produktion dargebotene Eugen Onegin, in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, kam schon 2006 in Moskau heraus und war längst an anderen Häusern zu sehen.

Dass man von einem Haus in der Größe der Wiener Staatsoper auch eigenständige Innovationen erwarten dürfte, wird sich irgendwann wohl auch bis zum Herrn Direktor durchsprechen. Vorerst erweist er sich aber nur als vielgereister, umtriebiger Schnäppchenjäger. Ob dieser Eugen Onegin allerdings wirklich ein Schnäppchen war, weiß man nicht so genau. Das wird sich erst herausstellen.

Immerhin musste – musste? – für die Premierenvorstellung eigens der Slowakische Philharmonische Chor angeheuert werden. Wenn das in weiterer Folge auch bei den kommenden Vorstellungen über Jahre hindurch erforderlich sein wird, könnte das recht teuer werden. Warum in alles in der Welt hat man dazu nicht den hauseigenen Chor, um den uns viele beneiden, heranziehen können?

Wenn eine alte Produktion in ein anderes Haus verlegt wird, sind allfällige Adaptierungen oft unausweichlich. Doch gerade da hat der Regisseur, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, einen folgenschweren Fehler begangen und keine Anpassungen vorgenommen. Die Folge dieses Versäumnisses: Da der Bühnenraum in der Höhe stark beschnitten wird, ist von der Galerie aus, ab der 2. Reihe etwa, die Sicht auf das Geschehen empfindlich eingeschränkt.

Der ganze erste Aufzug wird so zu einem ständigen Ärgernis. Schon im ersten Bild ist das Gesinde, das in dieser Inszenierung – merkwürdigerweise – mit der Herrschaft zusammen an einem riesengroßen, länglich-ovalen Tisch sitzt, zur Hälfte – nämlich auf der gegenüberliegenden Tischseite – nur mit abgeschnittenen Köpfen zu sehen. Wenn Lenski und sein mitgebrachter Gast Eugen den Saal betreten, sieht man zunächst für lange Zeit nur deren Füße bzw. Schuhe. Und da sich in weiterer Folge vieles hinter dem Tisch abspielt, geht die Parade der abgeschnittenen Köpfe lustig weiter und gipfelt darin, dass die innerlich durch ihre Begegnung mit Eugen aufgewühlte Tatjana auf den Tisch klettert und dort herumtänzelt und singt. Auch da sieht man nur ihre Zehen und, wenn’s hochkommt, maximal bis zu den Knöcheln.

Warum unternimmt ein Regisseur, bevor er sich an die Arbeit macht, nicht verpflichtend einen Rundgang durch das Haus, um sich auf die räumlichen Verhältnisse einstellen und nötige Anpassungen an seinem Regiekonzept vornehmen zu können? Hier besteht jedenfalls akuter Handlungsbedarf. Da muss, um die nächsten Vorstellungen für weite Teile des Publikums konsumierbar zu machen – dringend eingeschritten werden. Diese Inszenierung, so wie sie sich bei der Premiere zeigt, spielt nicht für die Galerie. Das ist ein nicht hinnehmbarer Zustand und eine Zumutung!

Nicht sehr tragfähig bei ihrer Umsetzung erweist sich die Grundidee des Regisseurs, für alle Akte ein Einheitsbühnenbild zu verwenden. Bereits im zweiten Bild, das nach Intimität ruft, sitzt Tatjana in der Briefszene mutterseelenallein am riesigen Tisch im riesigen Saal. Als die ihr seit der Kindheit vertraute Kinderfrau Filipjewna – natürlich zunächst wieder nur als Torso wahrnehmbar – hereinkommt, wickelt sich ihr vertrautes Gespräch in großer Distanz ab. Von der dafür angebrachten Kammerspielatmosphäre – das Gemach der jungen Frau – also keine Spur.

Auch das Treffen mit Eugen, nachdem er ihren Brief mit den Liebesschwüren bekommen hat, muss im großen Saal an eben diesem Tisch stattfinden, und nicht, wie im Libretto vorgesehen, im Garten. Vollends befremdlich ist, wenn dann auch das Duell, das sich im Übrigen nicht als Duell, sondern als Gerangel zwischen Lenski und Onegin herausstellt, in dessen Verlauf sich ein Schuss aus einem Gewehr (!) löst und Lenski tötet, in den ominösen Saal verlegt wird. Dafür wird das Tischtuch bis zur Hälfte des Tisches zusammengefaltet. Das dadurch sichtbare Holz – so vermutlich die Intention des Regisseurs – muss als Naturkulisse genügen.

Einen Vorteil kann man dem Regisseur beim konsequenten Festhalten an der Einheitsbühne allerdings zubilligen: Intime Ereignisse und Beteuerungen, in denen die betreffenden Personen – in erster Linie die Titelfigur und, im dritten Aufzug, auch Tatjana – üblicherweise monologartig Rechenschaft über ihr Innerstes, ihre geheimen Träume und Ängste ablegen, werden von Tcherniakov so schamlos veröffentlicht und ans Tageslicht gezerrt. Das entspricht etwa dem heute zu konstatierenden, offenen Umgang mit den sozialen Medien, in denen es keine Privatgeheimnisse mehr zu geben scheint. Und in diese moderne Gesellschaft passt auch Eugen Onegin hinein.



Henzes „Das verratene Meer“ (Premiere via Streaming 14.12.21) – Noch keine Premiere vor Publikum. Daher keine Rezension

Begründung: Ich weigere mich grundsätzlich, Rezensionen über gestreamte Opernpremieren zu verfassen, weil ich es da mit einer von TV-Aufnahmeleitern gefilterten, visuellen „Viewer`s Digest Version“ zu tun habe. Wie enorm die Unterschiede bei der Rezeption einer gestreamten und einer Opernaufführung vor Publikum sind, habe ich am deutlichsten im Fall der „Faust“-Inszenierung von Frank Castorf erlebt. Im Fernsehen war das Ganze recht erträglich, weil die Kameras vor allem auf die jeweils singenden Akteure fokussiert und Blicke auf die gesamte Bühne nur die Ausnahme sind. Das übliche Beiwerk, mit dem Castorf seine Produktionen versieht – in erster Linie seine enervierenden Videoeinspielungen, die auf bis zu zwei Bildschirmen gleichzeitig ablaufen und den Zuschauer verwirren und ablenken – wird von den Kameras nur gestreift. Die Bildregie gängelt den Zuseher und Zuhörer vor dem TV-Schirm bzw. Monitor. Manches wird gezeigt, vieles wird ausgeblendet. Wenn ich mich als Kritiker mit einer Opernaufführung beschäftige, möchte ich mir aber selbst ein Bild davon machen und sie nicht nur aus der Perspektive des TV-Regisseurs oder des Kameramannes erleben müssen. Schreibe ich eine Rezension über die gestreamte Version, habe ich nicht die Gesamtheit einer Inszenierung im Bild, sondern muss mit der von anderen Personen getroffenen Bildregie (Bildauswahl) vorliebnehmen.



Gounods „Faust“ oder Wien darf nicht Stuttgart werden (Premiere 19.5.2021)

Bei seiner Suche nach reanimierfähigen musikdramatischen Produktionen ist der unermüdliche Einkäufer Bogdan Roscic auf seiner Shoppingtour durch europäische Opernhäuser auch in Stuttgart fündig geworden. Getrieben von der Mission, dem Wiener Opernpublikum vor Augen und Ohren zu führen, was es in den letzten 25 Jahren an spektakulären Neuigkeiten in puncto Opernregie versäumt hat, präsentiert er nun Frank Castorfs Inszenierung von Charles Gounods recht freier Opernfassung von Goethes Faust 1. Teil aus dem Jahr 2017.

Mit erwartungsgemäß vielen – allzu vielen, weil letztlich ermüdenden und die Beobachtungsfähigkeit überfordernden – Videos, die das Dargestellte duplizieren, aus anderen Perspektiven kommentieren, zuweilen auch konterkarieren, sowie mit einem starken Zug zum Trashigen, Schäbigen, Heruntergekommenen. Die Opernfans zeigen wenig Begeisterung für das Ergebnis, sondern reagieren beim Schlussapplaus, nach begeistertem Jubel für die gesanglichen Leistungen und das Orchester, mit einem heftigen Buhorkan für das leading team.

Wenn dieser 19. Mai trotzdem in die Annalen eingehen wird, dann liegt es weniger an Castorfs heillos überfrachtet daherkommendem Bühnenzauber, sondern daran, dass an diesem Tag der „Lockdown“ geendet und die Staatsoper nach fast sieben Monaten erstmals wieder ihre Pforten geöffnet und Publikum zugelassen hat. Das Einlassprozedere klappte übrigens tadellos, ohne Warteschlangen und Verzögerungen, ebenso das Verlassen des Hauses.

Castorf siedelt die Handlung an einer Straßenecke in einem Elendsviertel im Paris der 50er und 60er Jahre des 20.Jahrhunderts an. Dabei geht es ihm offenkundig um den Algerienkrieg sowie um Kritik am Kolonialismus. Das zu dokumentieren, dazu dienen Plakate, Transparente, Videoeinspielungen und zusätzlich eingeführte Textpassagen. Die Bühne von Aleksandar Denic strotzt vor Müllansammlungen, tristen Lokalen sowie miesen Wohnräumen.

Dauernd passiert etwas, meist Unterschiedliches zur gleichen Zeit. Da singt etwa Mephistophélès unten auf der Straße, oben im ersten Stock belauscht man Faust und Marguerite bei einem vertraulichen Tete-à-Tete, links sieht man das Ganze aus einer anderen Perspektive simultan auf einer Leinwand projiziert, während rechts oben eine weitere Videoeinspielung mit einem Werbespot oder einer Kriegsszene aufzuwarten hat und von links eine protestierende Menschenmenge um die Ecke biegt.

Und so geht das in einem fort und überfordert mit dieser Überfülle an Informationen und Abläufen die Beobachtungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Publikums, so dass sich bald Überdruss und Übermüdung einstellen. Vor allem aber droht bei diesem steten Tohuwabohu an Parallelhandlungen der Fokus auf die Musik verlorenzugehen.

Marguerite ist bei Castorf kein unschuldiges, scheues Mädchen, sondern eine armselige junge Frau, Gehilfin in einer Fleischerei, die dem Elend entkommen will und dafür bereit scheint, als billige Straßenhure ihr Glück zu versuchen. Nicole Car verleiht dieser Figur eine nicht unsympathische, aber auch nicht besonders einnehmende Aura. Eine Frau auf dem Weg in den Abgrund – dennoch bleibt der Ausgang offen. Marguerite, von ihrem Bruder Valentin verdammt, flüchtet erschöpft in das Café Or Noir und trinkt etwas. Gift zum Sterben? Schnaps zum Vergessen? Man weiß es nicht. Beim Streaming konnte Cars Sopran nicht so recht punkten und blieb hinter den Erwartungen, die nach ihrem guten Auftritt als Tatjana in Eugen Onegin ziemlich hoch waren, deutlich zurück. Diesmal gelingt es ihr um einiges besser, die Schärfe ihrer Stimme einzudämmen. Und besonders gegen Schluss hin kann sie auch, total zerrüttet und dem Wahnsinn nahe, darstellerisch beeindrucken.

Castorfs Faust geht es nicht darum, zu ergründen, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, sondern er will einfach Marguerite an ihre Wäsche. All das, was man traditionellerweise mit der Figur des Faust verbindet, sucht man hier vergeblich. Hier ist er nur ein Greis, der noch einmal fleischliche Lust erleben und jung sein will und dafür die Dienste des Teufels in Anspruch nimmt. Am Ende quälen ihn ein paar Skrupel wegen der Misere, in die er seine von ihm geschwängerte und verlassene Geliebte gebracht hat. Das ist schon alles und damit herzlich wenig.

Juan Diego Florez tut sich offensichtlich schwer, dieser belanglosen, geheimnislosen, ganz ohne Vorgeschichte daherkommenden Gestalt Profil zu verleihen. Mit seinem feinen Tenor gelingt es ihm zwar, Begehren, Liebe, Zuneigung und Reue fühlbar zu machen, aber insgesamt bietet Castorfs Faust als Person nicht allzu viel Gestaltungsmöglichkeit. Wer Faust wirklich ist, wofür er steht, was ihn antreibt, woher er kommt und wohin es geht, das wird in dieser Inszenierung nicht einmal gestreift.

Durchaus interessant hingegen und bereichernd ist Castorfs Herangehensweise an Fausts Partner und Gegenspieler. Mephistophélès wirkt in Castorfs Lesart des Dramas nicht als großer Höllenfürst, sondern er ist vermutlich ein Teufel aus der zweiten Reihe. Lustvoll und ausdrucksstark führt der polnische Bassist Adam Palka diese Kreatur vor. Mit drolligem, nicht gerade einschüchterndem Augenrollen und machohaftem Imponiergehabe versucht dieser gewitzte Teufel seiner Position Machtfülle zu verleihen, wenn er sich etwa einen ausgefallenen Kopfschmuck aufsetzt oder seine ausladenden Bockshörner zur Schau stellt. Er nimmt dabei in Kauf, sich damit immer wieder der Lächerlichkeit preiszugeben. Als er schließlich den Kampf um Marguerites Seele verliert, zieht er achselzuckend weiter, um nach einem neuen Opfer Ausschau zu halten. Stimmlich passt Palkas Bass gut zu diesem Schmalspur-Satan, der mehr zu sein vorgibt, als er tatsächlich ist.

Beim Schlussapplaus einhelliger und begeisterter Beifall für Sängerinnen und Sänger sowie für Orchester, Dirigent und Chor. Als Castorf und sein Team auftreten, hagelt es vehement Buhrufe. So als wollte man sagen: Wien darf nicht Stuttgart werden.



Wagners „Parsifal“ (Streaming der am 11. April aufgenommenen Aufführung am 17.4.2021, noch keine Premiere vor Publikum.

Keine Kritik (Begründung siehe Punkt IV)


Monteverdis „L’Incoronazione di Poppea“ oder Wie man eine Oper vertanzt und vergeigt (Premiere 22.5.2021)

Die Oper, in der Karnevalssaison 1641/42 in Venedig uraufgeführt, hat Operngeschichte geschrieben und ihren Schöpfer Claudio Monteverdi zum wesentlichen Weichensteller für die Weiterentwicklung der damals noch jungen Gattung gemacht. Erstmals wurde eine Oper nicht an einem Fürstenhof, sondern in einem öffentlichen Theater, im Teatro Santi Giovanni e Paolo, aufgeführt, und die Handlung ist erstmals nicht der mythologischen Götterwelt entnommen.

Im Mittelpunkt stehen vielmehr wahrhaftige historische Persönlichkeiten rund um die Person des berühmt-berüchtigten römischen Kaisers Nero (Nerone). Es geht um Liebe, Eifersucht, Verrat, Mord und Totschlag, vor allem aber um Macht und Machterhalt um jeden Preis. Gerade aber die politische Dimension, das Streben nach Macht, spielt in der Regie von Jan Lauwers nur eine untergeordnete Rolle.

Dem belgischen Gründer der „Needcompany“, mit der er mit seinen inszenatorischen und vor allem tanzbetonten „Gesamtkunstwerken“ international für Aufsehen sorgt, geht es offenkundig vor allem um Erotik und Sex. Und das wird von der voll motivierten Tänzerschar in einem fort auch eindrucksvoll und abwechslungsreich vorgeführt.

Die Bühne, die eigentlich nur eine freie Fläche für allerlei Entfaltungsmöglichkeiten ist, bietet sich als Schauplatz stets neuer tänzerischer Formationen an (Choreographie Jan Lauwers & Paul Blackman). In der Mitte ein rundes Podest, auf dem sich Tänzer und Tänzerinnen abwechselnd wie Derwische ständig im Kreis drehen: der Lauf der Zeit, das Schicksal, die ewige Wiederkehr des Gleichen? Man weiß es nicht, aber schon beim Hinschauen könnte einem schwindlig werden.

Die Hauptakteure der Handlung, die sich in diesem Bewegungszirkus ihre Wege bahnen, werden dadurch oft in den Hintergrund gedrängt. Wenn sie nicht ihren Mund aufmachten und sängen sowie eigens gekleidet wären (Kostüme Lemm&Barkey) würden sie in dem Gewusel wohl untergehen. Das angestrebte „Gesamtkunstwerk“ leidet darunter, dass sich die Interaktion zwischen der Handlung und den Tänzen, der Konnex zwischen den Sängerinnen und Sängern und den Tänzerinnen und Tänzern nicht erschließen will: Aus und vertanzt!

Gesungen wird dafür ordentlich bis ausgezeichnet, und für feinen barocken Klang sorgt der Concentus Musicus Wien unter der sensiblen Leitung von Pablo Geras-Casado. Der Geist von Nikolaus Harnoncourt schwebt gütig über dem Orchestergraben, der hier etwas angehoben ist und so die Musiker an den Originalklang-Instrumenten in das Geschehen miteinbezieht. Barocker Originalklang, oft harsch und aufgeraut, ist für heutige Ohren allerdings Gewöhnungssache: acquired taste

Erste Anlaufstelle für Lauwers‘ Auseinandersetzung mit Monteverdis letztem und bedeutendstem Musikdrama waren die Salzburger Festspiele, wo er seine Inszenierung 2018 auf die Bühne gebracht hat, denn natürlich ist auch diese Premiere ein Produkt von Staatsoperndirektor Bogdan Roscics Einkaufsstrategie, die seit Herbst den Spielplan des Hauses prägt und fast ausschließlich darin besteht, anderswo entstandene Produktionen, die das Regietheater der letzten Jahrzehnte geprägt haben, nach Wien zu importieren und dem Publikum vorzusetzen.

Dennoch ist diese Premiere keineswegs identisch mit der Salzburger Aufführung, sondern sie wurde von Lauwers und seinem Team mit neuen Mitwirkenden neu erarbeitet. Nicht nur das, auch die Aufführungen, die folgen werden – so erklärte es der Regisseur in seinem Gespräch mit Roscic im Rahmen der Einführungsmatinee – werden sich von dem am Premierenabend Gebotenen unterscheiden, denn der Regisseur vertraut bei seiner Arbeit auf die Initiativkraft der Künstler, denen genügend kreativer Freiraum geboten wird, um stets spontan und improvisatorisch agieren und reagieren zu können. Jede Vorstellung wird demzufolge gewissermaßen eine Premiere sein. Flow und Groove sind Trumpf.

Nerone, der seine Frau, die Kaiserin Ottavia verstoßen will, weil er sich in Poppea verliebt hat und sie schließlich in einem dubiosen Happyend auch heiratet und zur Regentin krönen wird, wurde bei der Uraufführung von einem Kastraten gesungen. Wie schon in Salzburg, ist diese Rolle in dieser Version der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey anvertraut, die an der Staatsoper bereits als Cherubino, Octavian, Komponist und in der Titelrolle von Olga Neuwirths „Orlando“ zu erleben war. Ihre androgyne Erscheinung, die in dieser Konstellation auch auf die Stimme abzufärben scheint, verleiht den erotischen Szenen einen gewissen Reiz. Dennoch bleibt die Figur Neros etwas blass.

Auch Slavka Zamecnikova, vielfache Preisträgerin bei Gesangswettbewerben, ist darstellerisch nicht überzeugend. Der Drang zur Macht dieser Frau, die sich zur Königin emporgeschlafen hat, bleibt außen vor. Ihr Sopran ist aber betörend frisch und voll warmer Strahlkraft, was das junge Ensemblemitglied bereits als Norina in Don Pasquale bewiesen hat. Leider aber fehlt es bei dieser I’incoronazione di Poppea offensichtlich an allen Enden an angemessener Personenführung. Es hat den Anschein, dass Jan Lauwers sich mehr auf den Tanz konzentriert und auf Sängerinnen und Sänger ziemlich vergessen hat. Das zeigt sich auch bei den Auftritten Senecas und Ottavias. Willard White verfügt über eine wohlklingende Bassstimme, die er gut einzusetzen weiß, um der Person des Philosophen und Mahners für gesittetes Wohlverhalten, der von Nerone in den Tod durch Selbstmord geschickt wird, wenigstens stimmlich Würde zu verleihen. Ansonsten darf er nicht mehr als ein Rampensteher und Rampensänger sein.



Verdis „Macbeth“ oder die hohe Kunst des Verzichts auf dramaturgisch Wesentliches (Premiere 10.6.21)

Die Kritik über „Macbeth“ ist auf schoepfblog bereits zu Gänze erschienen. Da es sich hier aber um eine Gesamtschau der Saison handelt, wird der einleitende Teil, der sich mit der Inszenierung beschäftigt, der Vollständigkeit halber erneut wiedergegeben:

Die Handlung der Oper, vor allem aber Verdis Musik, so die Erkenntnis des Regisseurs Barrie Kosky, ist düster, schaurig und rabenschwarz. Das haben andere vor ihm auch schon so gesehen. Die ungeheure Spannung erhält das Werk aber gerade dadurch, dass es darin eine Szene gibt, die nicht von vornherein ausschließlich negativ belastet ist, in die aber das Unheil hineinschwappt wie ein Tsunami in eine feiernde Urlaubergruppe am Strand.

Der durch Mord zum König gewordene Macbeth und seine Frau geben ein Fest, zu dem die Hofgesellschaft geladen ist. Mit betont ausgelassener Stimmung wird versucht, den vergangenen Schrecken zu vergessen und einer hoffentlich strahlenden Zukunft entgegen zu sehen. Doch die Dämonen der bösen Taten dringen verstörend in das Geschehen ein. Das Fest endet in einem Fiasko. Indem Kosky aber auf alles „Beiwerk“ verzichtet, nur das Ehepaar auf der schwarzen, nur von Spots auf sie erleuchteten Bühne erscheinen lässt – der Chor singt im Blackout, pardon: im Off, nackte Personen stehen starr und teilnahmslos am Rand der Bühne – verpufft dieser zentrale dramaturgische Effekt im Nichts.

Bei seiner nächsten Inszenierung müsste der Regisseur konsequenterweise als nächsten Schritt überhaupt alles im Dunkeln lassen: Radikale Dunkelheit schärft den akustischen Wahrnehmungssinn bekanntlich immens und wird in Entertainment-Etablissements längst als grandiose Erfahrungsmöglichkeit angeboten. Noch aber ist es nicht so weit, denn was hier geboten wird, ist ein Aufguss einer zuvor schon in Zürich gezeigten Produktion. Die Wiener Staatsoper untermauert damit ihren seit Herbst beharrlich eingeschlagenen Weg, hinsichtlich Neuproduktionen vornehmlich ein Zweitvermarkter zu sein.

Das Geschehen auf der Bühne ist diesmal also noch nicht ganz in Dunkelheit gehüllt. Außer dass alle Nebenhandlungen, wie z.B. die Ankunft von König Duncan, gestrichen sind, ist dem Regisseur sonst nicht besonders viel eingefallen. Statt des Chores sind auf der Bühne 30 nackte Personen zu sehen, von denen die Frauen Penisse und ein paar Männer eine V-förmige Schambehaarung vorzuweisen haben. Wohl als besonders kühne Umsetzung dessen, was im Libretto als „Frauen mit Bart“ angedeutet ist. Als Hexenchor bedrängen sie Macbeth, umringen ihn, wälzen sich mit ihm auf dem Boden, treten in dieser Adjustierung schwer begreiflicherweise aber auch als Hofgesellschaft auf.

Dazu gibt es noch jede Menge rabenschwarze Raben, die den anfangs am Boden liegenden Macbeth bedecken, vorübergehend entfernt, später auch zerfleddert werden und zu Macbeths schändlichen Überlegungen unaufhörlich mit dem Kopf nicken. – Totenvögel? Auf den Schultern von Hexen sitzende Attribut des Unheimlichen? Ziemlich billig, wenig originell, dafür schier endlos eingesetzt.

Nachdem Macbeth von Macduff erstochen worden ist, unterhält er sich angeregt mit einem Raben. Worüber sie wohl sprechen? Vielleicht über die Abwesenheit des Regisseurs, der beim Schlussapplaus nicht in Erscheinung tritt.

Szenisch gibt das Ganze nicht viel her, stört mit seiner Belanglosigkeit aber auch nicht allzu sehr. Musikalisch hingegen ist die Ausbeute um einiges ergiebiger und wird den hohen Erwartungen, die man an eine Premiere im Haus am Ring setzen kann, weitgehend gerecht.



Exkurs: Wagners „Lohengrin“ oder Wie ein Repertoirealltag an der Staatsoper aussieht (29. Aufführung in dieser Inszenierung, 30.6.21)

Als letzte Vorstellung zum Ausklang der ausgezehrten Saison 2020/21 steht eigentlich nicht, wie angekündigt, Wagners Lohengrin auf dem Programm, sondern die von Andreas Homoki ersonnene und von Wolfgang Gussmann ausgestattete Paraphrase Lodengrün, in der über die von einer alpenländischen Trachtenboutique gesponserte Jahreshauptversammlung einer Jägerschar im „Gasthaus zum goldenen Schwan“ berichtet wird, zu der – zur Klärung der anstehende Probleme und Streitigkeiten – offenbar auch der Landesjägermeister sowie ein geheimnisvoller, per Schwan angereister Gast eingeladen worden sind.

Der von Wagner festgelegte Handlungsverlauf ist in dieser Inszenierung aus dem Jahr 2014, von ein paar Ungereimtheiten abgesehen, jedoch weitgehend eingehalten und bleibt nachvollziehbar. Homoki hat den Schritt ins Regietheater nicht vollzogen, sondern „nur“ eine verunglückte Einbettung des Geschehens in eine alpenländische Dorfszenerie mit krachledernen, Bierkrüge schwingenden Männern und sittsamen Ehefrauen mit Gretlfrisuren gewagt. Lodenjanker und Dirndlkleider statt SS-Stiefel und BDM. Naja. Hier hätte der neue Staatsoperndirektor beherzt eingreifen können, doch für das kommende Frühjahr ist stattdessen ausgerechnet eine Neuinszenierung von Tristan und Isolde angekündigt, die die gar nicht schlechte, sondern bewährte und allseits gelobte Produktion von David McVicar aus 2013 ablösen wird. Man hofft auf das Beste und ist …

Wie so oft, bleibt dem Publikum auch bei dieser Aufführung der Trost, dass das, was auf der Bühne und im Orchestergraben geboten wird, die Unzulänglichkeiten von Regie und Ausstattung transzendierend vergessen macht und so immerhin die Musik für ein befriedigendes, erhebendes Erlebnis sorgt.


EPILOG

Ein Gespenst geht um in Europa: Das Regietheater. So lange es durch die Opernhäuser geistert, wird weiterhin seitenlang über dessen Auswüchse und Absurditäten geschrieben werden. Für die musikalische Gestaltung bleiben dann oft nur wenige Zeilen. Bevor dem nicht ein Ende gesetzt wird, werden die Proponenten des Regietheaters weiter ihr Unwesen treiben und sich über das große, wenn auch oft ablehnende Interesse an ihren Hervorbringungen freuen, und sich behaglich im Getöse der Buhrufe suhlen.

Ich habe früher vermutet, dass diese Regisseure allesamt Masochisten sind, die die Ablehnung und den Protest und die Empörung brauchen. Inzwischen glaube ich, dass sie vielmehr Sadisten sind, denen es Freude bereitet, uns mit ihren Inszenierungen zu quälen.

Man könnte natürlich auch einfach nicht mehr hingehen – zu solchen Aufführungen. Außer man ist masoschistisch veranlagt, und es giert einem danach, gefoltert zu werden. Eine der letzten Großtaten des neuen Direktors der Staatsoper zielt ohnehin in diese Stoßrichtung: Er überraschte das Publikum für die kommende Saison mit einer geschmalzenen Erhöhung der Ticketpreise für eine erkleckliche Zahl von Sitzplätzen. So etwas wird im Musikbusiness der Medienmultis, aus dem er kommt, „Anpassung“ genannt.

Eine Posterin im User-Forum des Online Merkers hat jüngst den Vorschlag gemacht, diesen Regisseuren in Hinkunft einfach nicht mehr so viel Beachtung zu schenken, weil sie zu viel Aufmerksamkeit zu immer abstruseren „Interpretationen“ und „Deutungen“ anzustacheln scheint. Man sollte sie möglichst kurz abhandeln: Regie – ultramodern. Punkt. Inszenierung: Regietheater. Punkt.

Und dann widme man sich den Sängerinnen und Sängern, dem Chor und dem Orchester sowie dem musikalischen Leiter der Aufführung und deren Leistungen.

An diesem Vorschlag ist was dran.


Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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