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Alois Schöpf
Das geraubte Lebenswerk
Auf den Tiroler Festspielen Erl 2021 liegt der Makel der Niedertracht.
Versuch einer Analyse
3. Teil


Es war der großartige Jacques Offenbach, der schon im Jahre 1858 in der Operette „Orpheus in der Unterwelt“ die öffentliche Meinung zum Gegenstand des beißenden Spottes machte. Mehr als eineinhalb Jahrhunderte später hat sich nicht viel geändert, im Gegenteil, alles wurde nur noch schlimmer, wie die wochenlangen Debatten in Österreich über die Sittsamkeit illegitim an die Öffentlichkeit gelangter Handychats von führenden Politikern und deren angebliches Sexualverhalten beweisen.

Ganz in dieses Bild passt denn auch die planmäßige öffentliche Hinrichtung Gustav Kuhns, der sexueller Belästigungen und Übergriffe bezichtigt und zum Rücktritt gezwungen wurde, bevor noch die Justiz Gelegenheit hatte, als Repräsentantin des Gewaltmonopols aktiv zu werden. Als dem nämlich so war und nicht einmal Anklage erhoben wurde, weil eine professionell ausgebildete Gerichtsbarkeit einerseits die Suppe zu dünn befand und andererseits manch angebliches Delikt als verjährt einstufte, war die Demontage des Maestros bereits vollendet. Von nun an wurde argumentiert, dass, abseits der Einschätzung der Gleichbehandlungskommission, die Vorwürfe gegen Kuhn deshalb aufrecht blieben, weil man von seinen Opfern sowohl aus karrieretechnischen als auch aus Gründen der psychischen Belastung niemals erwarten hätte können, an die Öffentlichkeit zu gehen – nur die Todesmutigsten hatten diesen Schritt getan -, weshalb eine Verjährung nichts an der schwerwiegenden, zumindest moralischen Verfehlung selbst etwas ändere.

Homosexualität zwischen Erwachsenen wurde 1971 legalisiert. Im Jahr 2002 wiederum wurde nach einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs das Schutzalter für männliche Homosexuelle von 18 auf 14 Jahre gesenkt. Vor einigen Wochen entschuldigte sich nun die österreichische Justizministerin Alma Zadić in diesem Zusammenhang dafür, dass bis zur Aufhebung der Strafbarkeit der Homosexualität die Existenz von ca. 15.000 Österreichern ruiniert worden sei.

Ohne in die zeitgeistig tobende Schlacht zwischen über Jahrhunderte entrechteten Frauen und alten weißen Männer eingreifen zu wollen, sollte dieses Beispiel insofern zum Nachdenken anregen, als alles, was mit sexueller Übergriffigkeit im engsten und im weitesten Sinn zu tun hat, einer in den letzten Jahren und Jahrzehnten rasch sich ändernden Beurteilung unterlag und schon allein deshalb das Argument, dass Verjährung nichts an der moralischen Verwerflichkeit einer Tat ändere, widerlegt sein dürfte.

Sollte also von Seiten Kuhns tatsächlich schuldhaftes Verhalten gegeben gewesen sein, so hätten die Betroffenen nicht, aus welchen Gründen auch immer, zuwarten dürfen, da der Staat, um Rechtssicherheit gegenüber einem sich stetig wandelnden Zeitgeist zu wahren, abgesehen von Kapitalverbrechen aus guten Gründen das Prinzip der Verjährung eingeführt hat. Dies gilt auch für die angeblichen Versuche Kuhns und seines Teams, die Karriere jener, die Widerstand gegen ihn leisteten, zu schädigen, wobei in diesem Fall die Beobachtung nicht unerwähnt bleiben darf, dass gerade in den darstellenden Künsten das Ausbleiben eines Erfolgs nur von den allerwenigsten den eventuell mangelnden eigenen Talenten oder Befähigungen zugeschrieben wird, vielmehr ganz im Gegenteil stets die böse, das eigene Genie nicht wahrnehmende Kollegen- bzw. Gesellschaft schuldig gesprochen wird.

Tatsache ist jedenfalls, dass Kuhn nach Ansicht der Gerichte bis dato als unschuldig zu gelten hat, woraus sich die Frage ergibt, weshalb ihm keiner und keine von jenen Politikern und Politikerinnen Beistand leisteten, von denen man schon allein aufgrund ihrer satten Gehälter davon ausgehen müsste, dass sie über ein Minimum an Wissen darüber verfügen, wie ihr Staat, an dessen Spitze sie gewählt wurden, funktioniert und zu funktionieren hat. Dies betrifft vor allem die Politiker Beate Palfrader als interesselose Landesrätin für Kultur und den Landeshauptmann von Tirol Günther Platter, der sich noch vor seiner letzten Wahl von Gustav Kuhn per Inserat öffentlich adorieren ließ.

In gleicher Weise, in der Hans Peter Haselsteiner als erfolgreicher Unternehmer und prominenter Liberaler mit Hang zur politisch korrekten Rede berechtigterweise Angst haben musste, durch #metoo wie sein Freund Gustav Kuhn in die Abgründe geschäftsstörender Verdächtigungen gezerrt zu werden, so dürften ähnliche Ängste den Landeshauptmann geplagt haben, wohingegen die ehrgeizige und karenzierte Schuldirektorin Palfrader die große Chance witterte, sich österreichweit als Dirndlfeministin zu outen.

Und so sehr es bei Hans Peter Haselsteiner verwundert, dass er als Reaktion auf die Scherereien, die er sich für seine Großzügigkeit als Opern-Mäzen eingehandelt hat, nicht umstandslos alles hinwarf, so deprimierend ist die Erkenntnis, dass sich ausgerechnet unsere Tiroler Politiker, die sich routinemäßig einer dem Nationalhelden Andreas Hofer abgeschauten angeblichen Widerständigkeit befleißigen, im Falle Kuhn als besonders bedauernswerte Feiglinge dem Zeitgeist gegenüber und somit als Verräter am Rechtsstaat erwiesen.

Selbiges gilt natürlich auch für die Medien, die es in Vorwegnahme eines fiktiven, unter allen Umständen durch radikale Anbiederung bei der Stange zu haltenden Lesers verabsäumten, dem ursprünglichen Auftrag journalistischer Tätigkeit nachzukommen, die Aufklärung für ein breites Publikum zu befördern. Ganz im Gegenteil: weder ein totalitärer feministischer Anspruch, noch die Realitätshaltigkeit von behaupteten Unterdrückungszusammenhängen wurden einer kritischen Analyse unterzogen.

Zur Entschuldigung für dieses Verhalten könnte immerhin angeführt werden, dass Kuhns Fähigkeit, durch sein Charisma eine Schar von Jüngern um sich zu versammeln und Geldgebern gegenüber fast schon messianische Qualitäten zu entwickeln, im Falle der geringsten Enttäuschung im Hinblick auf seine charakterlichen Qualifikationen offenbar eine fast ebenso große Abstoßungsreaktion hervorrief. Da stellte des Maestros Vorbild in Salzburg Herbert von Karajan es schon viel klüger an, wenn er sich mit seiner schönen Eliette als skandalfreier Gesandter der Künste mit Porsche oder Privatjet in seine Villa nach Anif zurückzog, um nach den Konzerten im Swimmingpool seine kaputten Bandscheiben zu pflegen, statt junge Damen lediglich als Besitzer eines Motorrads unsittlich anzubaggern.

Ebenso entschuldigend sollte nicht unerwähnt bleiben, dass viele von jenen, die sich von Kuhn distanzierten, vielleicht tatsächlich ernsthafte Sorgen hegten, dass der Erfolg und der Fortbestand der Tiroler Festspiele Erl unter seiner weiteren Leitung gefährdet sei. Es ist heute noch zu früh, um im Hinblick auf diese Ängste ein eindeutiges Urteil zu fällen. Tatsache ist jedenfalls, dass nach Kuhn, der immerhin mit seinem Haus in Erl als Wahl-Tiroler durchgehen kann, wieder einmal flächendeckend unsere nördlichen Nachbarn das Kommando als Kultur-Söldner bei den doofen Ösis und hier wohl bei den besonders doofen Tirolern übernommen haben, und in Erl unter fast völligem Ausschluss heimischer Kräfte mit Steuergeldern aus Tirol und Österreich unter der Leitung eines deutschen Opern-Oberbuchhalters Stücke aufgeführt werden, die mit deutscher Romantik sehr viel, mit den Realitäten Österreichs bzw. Tirols bzw. der Eigenschaft des Landes als Verbindungsglied zwischen Nord und Süd, und schon gar mit seiner Gegenwart fast nichts zu tun haben. Pardon: die Aushilfskräfte am Buffet sind natürlich schon Einheimische!

So bleibt am Ende eines aufwändigen Familienstreits, der sehr selten nur aus einem Teil Schuldiger und einem Teil Unschuldiger besteht, als letzte Frage jene nach der Verhältnismäßigkeit. Sind Kuhns Verfehlungen, von den Gerichten nicht weiter verfolgt und nur von einer fragwürdigen Gleichbehandlungskommission bestätigt, tatsächlich so schwerwiegend, dass es gerechtfertigt ist, ihn seines über 25 Jahre aufgebauten Lebenswerks zu berauben?

Ich für meinen Teil würde diese Frage eindeutig mit Nein beantworten und darauf verweisen, dass dieses biedere und spießige Tirol, das aus einer durch Armut geprägten bäuerlichen Knausrigkeit heraus immer noch meint, große Leistungen der Kultur um einen kleinen Teil jenes Preises, der anderswo erbracht werden muss, geschenkt zu bekommen, und das aus dieser Kleinkariertheit heraus vollkommen unfähig ist, mit bedeutenden Künstlern auf Augenhöhe so zu verhandeln, dass das produktive und oft sogar streiterfüllte Verhältnis zwischen Geldgebern und Kreativen zu Höchstleistungen befähigt, in gleicher Weise in Erl gescheitert ist wie der Gründer und Initiator der Festspiele möglicherweise an sich selbst gescheitert ist.

Wer diese Erkenntnis auch nur im Ansatz ernst nimmt, würde es als ein Mindestmaß an Wiedergutmachung begrüßen, wenn Kuhn als Ehrenpräsident mit Stimmrecht in die Führungsetage der Tiroler Festspiele Erl wieder einziehen und pro Saison als immer noch wirkmächtiger Publikumsmagnet eine Opernaufführung und Konzerte übernehmen könnte. Ganz abgesehen davon, dass ihm der Tiroler-Adler-Orden schleunigst wieder zurückgegeben werden sollte.

Die altgriechische Tugend, Maß zu halten (σωφροσύνη), hat auch nach zweieinhalbtausend Jahren nichts von ihrer Bedeutung verloren.

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Manfred A. Schmid

    Von Wien aus ist es schwierig, den „Fall Gustav Kuhn und Erl“ und was in Wahrheit dahinter stecken könnte, zu verstehen. Die überregionalen Medien zeigen wenig Interesse, die Gründe und Hintergründe eines von ihnen in Windeseile weiter verbreiteten Skandals made in Tyrol zu hinterfragen. Alois Schöpfs Analyse kommt da gerade recht. Denn Schöpf durchleuchtet die Machenschaften und Interessen der Tiroler Kulturpolitik, die Rolle der Medien und die Motive der direkt darin Involvierten. Thematisiert werden auch die rechtlichen und gesellschaftlichen Implikationen sowie die dramatischen, existenzvernichtenden Folgen für den trotz weiterhin aufrechter Unschuldsvermutung in aller Öffentlichkeit bereits gänzlich verfemten, verdammten und in die Wüste geschickten Gründers, Intendanten und Chefdirigenten der Erler Festspiele. Ein leidenschaftlich vorgetragenes, sachlich gut begründetes Plädoyer für eine sorgfältige, objektive Beurteilung und eine fundierte Abrechnung mit den allseits bereits vorgenommenen Vorverurteilungen. Ob und inwieweit Kuhns Verhalten tatsächlich skandalös gewesen sein soll, bleibt weiterhin ungeklärt. Dass das inzwischen niemanden mehr kümmert, das ist der wahre Skandal.

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