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Manfred A. Schmid
Ein künstlerisches Opernereignis
von bleibender Aktualität
Zur Klosterneuburger Don Carlo Premiere
Besprechung

Verdis anspruchsvollste und wohl auch gelungenste Oper bei einem Open Air Sommerfestival: Eine schier unbewältigbar erscheinende Herausforderung. Dafür braucht es nämlich nicht, wie üblich, drei, sondern gleich sechs herausragende Stimmen. 

Thomas Weinhappel (Marquis von Posa) und Ensemble Thomas Weinhappel (Marquis von Posa) und Ensemble

Die heuer zum 25. Mal im Kaiserhof stattfindende Oper Klosterneuburg schafft das. Nicht mit Anstand, sondern mit Bravour! Ein Riesenerfolg für Intendant Michael Garschall und für Günther Groissböck bei seiner ersten abendfüllenden Regiearbeit. Dass der weltweit gefeierte österreichische Bass dazu auch noch als Philipp II neue Maßstäbe setzt, macht diese Premiere zu einem Großereignis, das vom Publikum stürmisch gefeiert wird.

Kaum eine andere Oper eignet sich so ideal für die Aufführung im Hof eines barocken Stifts wie Don Carlo. Denn die Handlung nach Schillers gleichnamigem Drama steht ganz im Zeichen der unheiligen Allianz von Staat und Kirche im Spanien des Jahres 1560. 

Andersdenkende werden vom gemeinsam ausgeübten Terrorregime als Ungläubige gebrandmarkt und im Namen Gottes auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dennoch erheben sich Stimmen, die sich gegen die systematische Unterdrückung wenden und Freiheit fordern – und ebenfalls getötet werden. 

Dazu kommt eine tragische Liebesgeschichte: Aus Gründen der Staatsraison ehelicht der verwitwete König Philipp die eigentlich seinem Sohn Don Carlo zugedachte Elisabeth von Valois. Diese darf nun, in die Mutterrolle gedrängt, Carlos Drängen und ihren eigenen Gefühlen nicht nachgeben. Das ohnehin schon angespannte Vater-Sohn-Verhältnis – der König tritt Don Carlo mit Misstrauen gegenüber und hält ihn als Thronfolger für untauglich – wird dadurch noch mehr belastet. 

Politische und private Intrigen sowie das Eingreifen des Großinquisitors führen letztlich dazu, dass Philipp, von der Kirche unter Druck gesetzt, sowohl seinen Berater, Marquis von Posa, wie auch seinen mit diesem eng befreundeten Sohn opfern muss, um seinen absoluten Herrschaftsanspruch von Gottes Gnaden zu erhalten. 

Posa wird erschossen, Don Carlo wird vom Geist seines Großvaters, des machtmüden Habsburgerherrschers Karl V., der sich in ein Kloster zurückgezogen hatte, vor dem Zugriff der Inquisition gerettet.

Dieser von Schillers Vorlage abweichende coup de theatre, die Errettung Don Carlos durch eine transzendentale Macht, wird von Regisseur Günther Groissböck so inszeniert, dass nicht, wie gewohnt, nur die Stimme von Karl V. zu vernehmen ist, sondern dass der verstorbene König aus seinem Sarkophag, der von Anfang an dominant ganz vorne in der Mitte der Bühne zu sehen ist, emporsteigt und seine Entscheidung leibhaftig verkündet. 

Günther Groissböck (Philipp II.) und Karina Flores (Elisabetta) Günther Groissböck (Philipp II.) und Karina Flores (Elisabetta)

Im Grunde aber hält sich Groissböck, dem Regietheater bekanntermaßen strikt abhold, weitgehend an das Libretto, setzt jedoch einige Akzente, wenn er etwa am Beginn des 3. Akts, Philipp in inniger Umarmung mit der Prinzessin Eboli zeigt, die er alsbald angewidert von sich stößt. 

Üblicherweise erfährt man vom Ehebruch nur durch das reuevolle Geständnis der Eboli gegenüber der von ihr betrogenen und verratenen Königin Elisabetta. Die ausgezeichnete, die breite Bühne kühn ausnützende Personenführung in den Duetten, Terzetten, Quartetten und Ensembleszenen ist das sichtbarste Markenzeichen der Regie. 

Auffallend auch eine lebendige Zeichnung der Charaktere, die zwar in eleganten schwarzen Roben mit weißen Halskrausen und – beim König – mit Goldbesatz (Kostüme Andrea Hölzl) auftreten. Wenn sich darunter, gleich am Anfang, auch ein ebenfalls mit einer Halskrause ausgestatteter Jagdhund befindet, den eine der Hofdamen an der Leine führt, dann wird das gewohnt streng-düstere Zeremoniell am spanischen Hof doch etwas hinterfragt und aufgelockert, was schließlich die Möglichkeit eröffnet, dass die zentralen Protagonisten umso heftiger ihre Leidenschaften und Gefühle hervorbrechen lassen können. Groissböck stellt Menschen aus Fleisch und Blut auf die von Hans Kudlich geschaffene Bühne, nicht nur Funktionsträger. 

Monumentale, kantige Bögen rechts und links rahmen die Bühne ein und erinnern an eine Allee, die zum Palast führt. Ein paar Stufen führen zu einem Flügelaltar, der aufgeklappt den Blick auf ein Pieta-Gemälde freigibt. Auch das ein deutlicher Beleg für die Oberhoheit der Kirche. Eine Gewissheit, die dann noch verstärkt wird, wenn in entscheidenden Szenen der rotgewandete Großinquisitor von oben herab das Geschehen überwacht. 

So etwa auch beim Autodafé, wenn die drei mit hochragenden Pfählen versehenen Scheiterhaufen, auf denen weibliche Opfer der Verfolgung verbrannt werden, wie die Kreuze auf Golgatha angeordnet sind. Eine deutliche Kritik und Korrektur, die Verdis inständigem Vertrauen auf eine höhere Gerechtigkeit und seinem tiefen Misstrauen gegenüber weltlichen und geistlichen Machthabern entspricht.

Der dramatischen Vorlage gemäß erweitert Verdi die sonst für seine Opern typische Dreieckskonstellation der Frau (Sopran) zwischen zwei Männern (Tenor und Bariton/Bass) um drei weitere Personen. Zum familiären Liebeskonflikt Elisabeth-Don Carlo-Philipp kommen die machtpolitischen Bestrebungen der intriganten Prinzessin Eboli (Mezzosopran), des Freiheitskämpfers Posa (Bariton) und des Großinquisitors (Bass) hinzu. 

Alle sechs Partien sind in Klosterneuburg ausgezeichnet besetzt, doch auch schon die erste zu hörende Stimme des geheimnisumwitterten Mönchs, gesungen von Beniamin Pop mit markigem Bass, zeigt, was für ein Augenmerk auf die Auswahl der passenden Sängerinnen und Sänger hier gelegt wird. Anzunehmen, dass der Regisseur hier ein gewichtiges Wort mitzureden hatte

Der hierzulande noch kaum bekannte junge Tenor Arthur Espirtu ist als Don Carlo tatsächlich eine Entdeckung. Der auch darstellerisch engagiert ans Werk gehende Sänger aus den Philippinen singt, nach etwas zaghaftem Beginn, mit sattem Stimmton und strahlender Höhe und erinnert – wie meine Sitznachbarin meinte – an die Wiener Anfänge von Francisco Araiza. Sein mit dunklen Untertönen gefärbter lyrischer Tenor ermöglicht eine ziemlich dramatische und fesselnde Gestaltung der Rolle des seine Emotionen nur schwer in Zaum haltenden spanischen Infanten.

Der österreichische Bariton Thomas Weinhappel, im Vorjahr ein ausgezeichneter Marcello in der Klosterneuburger La Bohéme, ist auch als kühner, dem König selbstbewusst gegenübertretender und ihm unerschrocken die Wahrheit sagender Rodrigo, Marquis von Posa, eine Wucht. Das mitreißende Duett Dio, che nell’alma infondere, das den Vergleich mit dem brüderlichen Liebesduett in Die Perlenfischer nicht scheuen muss, ist in den Händen, pardon: Stimmbändern von Espiritu und Weinhappel ein applausheischender Höhepunkt. Auch Rodrigos Abschied Per me giunto è il dì supremo weiß zu berühren.

Margarita Gritskova (Prinzessin Eboli), Thomas Weinhappel (Marquis von Posa), Arthur Espiritu (Don Carlo) Margarita Gritskova (Prinzessin Eboli), Thomas Weinhappel (Marquis von Posa), Arthur Espiritu (Don Carlo)

Die russische Mezzosopranistin Margarita Gritskova, als ehrgeizige, eifer- und karrieresüchtige Prinzessin Eboli, singt, als ob sie ständig unter Strom stehen würde. So verbreitet sie ein anhaltendes Gefühl schwelender Spannung, die dann auch zu einem Racheakt eskaliert. Erste Anzeichen dafür gibt es schon in ihrer ersten Arie Nel giardin del bello, die zwar einnehmend klingt, aber in Gritskovas Interpretation schon einen Funken innerer Unruhe nicht verleugnen kann. Ihre Reue und ihr bedingungsloser Rückzug in die Einsamkeit eines Klosters klingen wahrhaftig. Ob diese Entscheidung tatsächlich endgültig ist, darf aber bei dieser so leicht erregbaren, hypersensiblen Frau, die um Anerkennung kämpft, bezweifelt werden. Außer sie avanciert bald zur Äbtissin.

Ebenfalls aus Russland stammt die Sopranistin Karina Flores, die bereits 2016 als beste weibliche Hauptrolle beim Österreichischen Musiktheaterpreis für ihre Gestaltung der Adriana Lecouvreur am Landestheater Innsbruck ausgezeichnet wurde. Bei ihrem Klosterneuburger Debüt als unglückliche Königin Elisabetta begeistert sie mit ihrem fein geführten Sopran, der den gerade mörderisch fordernden Stimmumfang von profunder Tiefe bis in höchste, im zartestem Pianissimo vorgetragene Spitzentöne mühelos bewältigt. Als vom Schicksal schwer gezeichnete Frau bewahrt sie auch in ärgster Bedrängnis ihre Würde und bewegt das Publikum mit ihrer innigen Interpretation der Arie Tu che le vanità im vierten Akt.

Nach seinem erfolgreichen Klosterneuburger Debüt als Padre Guardiano in La forza del destino 2021 überzeugt diesmal der zuverlässig exzellente brasilianische Bass Matheus Franca als bei jedem seiner Auftritte Angst und Schrecken verbreitender Inquisitor, vor dem selbst der König furchtsam auf die Knie fällt. Sein mächtiger Bass, mit einem ungewohnt kräftig klingenden tiefsten Ton, passt ebenso gut zu seiner Machtfülle wie sein blutroter Talar, der vom Blut der Hingerichteten gefärbt zu sein scheint.

Im Zentrum des Geschehens steht aber der österreichische Bass Günther Groissböck als König Philipp. Dank seiner enormen Bühnenpräsenz, seines ausdrucksstarken, modulationsfähigen Basses und seiner kreativen Gestaltungskunst stellt er, ähnlich wie in seiner vielbeachteten Interpretation des Ochs zu Lerchenau an der MET, diesmal einen etwas anderen Philipp II. auf die Bühne. 

Es ist nicht der wie üblich ungerührt majestätische, stoische Herrscher mit steinhartem Herz, der nur einmal kurz seine Fassung verliert und sich beklagt, dass ihn seinen Frau nie geliebt habe (Ella giamma m’amó), sondern Groissböcks König Philipp ist ein Mann mit starken Emotionen, der mehrmals in Zorn-, Eifersuchts- und Wutausbrüchen, eines Königs unwürdig, explodiert und gegenüber Eboli und Elisabetta sogar handgreiflich wird. Eigentlich hat er sich nur in der öffentlichkeitswirksamen Autodafé-Szene voll unter Kontrolle.

Die düstere, von latenten und offen zutage tretenden Spannungen geprägte Atmosphäre findet ihren Kulminationspunkt in der Szene zwischen den beiden Bässen König Philipp und Großinquisitor. Der von einschüchterndem, unerbittlichem Rhythmus der einstimmig in tiefer Lage operierenden Celli und Kontrabässe begleitete Einzug des Großinquisitors, in den Fagott und Kontrafagott einstimmen, lässt ein unheimlich bedrohliches Klangbild entstehen, das Philipp den Boden unter den Füßen, die Basis seiner Macht, wegzuziehen scheint. 

Das Orchester, die Beethoven Philharmonie, unter der Leitung von Christoph Campestrini, wird dem eigentümlichen Sog dieser Musik gerecht und spielt beeindruckend präzise und dennoch voll von Emotionen. 

Von Campestrini stammt auch die hier verwendete, auf der Grundlage von Verdis italienischer Version fußende Klosteneuburger Fassung, die einige Striche von Wiederholungen vornimmt, dafür aber auch ein paar Stücke aus der ursprünglichen, französischen Fassung des Don Carlos der Grand Opéra übernimmt, darunter das Lamento, in dem Phlipp seiner Tauer angesichts des Todes von Posa glaubwürdig Ausdruck verleiht. 

Der Chor operklosterneuburg, bestens vorbereitet von Michael Schneider, besonders gefordert im Autodafé-Akt, trägt zum Erfolg ebenso bei wie Fiona Ilie als Tebaldo und Stimme vom Himmel.

Resümee: Zermürbt und vom Großinquisitor in seiner Ohnmächtigkeit vorgeführt, überlässt Philipp II. seinen Sohn der Inquisition. Religion, in Verbindung mit absolut gesetzter Macht, wird unweigerlich zur fundamentalistischen Ideologie. Hass, Vernichtung und Krieg sind die unausweichliche Konsequenz. Nicht nur damals im 16. Jahrhundert, oder zu der Zeit, als der politisch wachsame Giuseppe Verdi an der Oper schrieb, sondern auch heute. 

Don Carlo in Klosterneuburg ist nicht nur ein gelungenes Opernereignis, sondern auch – wie alle großen Werke – von bleibender Aktualität. Stehender, begeisterter Applaus.

Fotovermerk: Oper Klosterneuburg / Barbara Pálffy


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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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