Manfred A. Schmid
Mephistophéles als munteres Kerlchen
Frank Castorfs „Faust“
nach Charles Gounod & Johann Wolfgang von Goethe
in der Wiener Staatsoper

Die Deutschen haben es nie verziehen, dass ein Franzose aus Goethes Faust – unter Zuhilfenahme seiner Landsleute Jules Barbier & Michel Carré, die für das Libretto verantwortlich zeichneten – eine Oper gemacht hat.

Tatsächlich ist dabei von der menschheitsgeschichtlich bedeutsamen Figur des rastlosen, enttäuschten und wissbegierigen Mannes nur wenig übriggeblieben. Wohl als Strafe dafür wurde Gounods Oper – bis vor gar nicht so langer Zeit – auf den Spielplänen deutschsprachiger Bühnen beharrlich unter dem Titel Margarethe aufgeführt. Was im Grunde so falsch nicht war, denn der erste Teil von Goethes Meisterwerk, um den es hier geht, wird auch heute noch gemeinhin als „Gretchentragödie“ bezeichnet.

Frank Castorfs Inszenierung, die als Koproduktion bereits vor Jahren ihre Premiere in Stuttgart hatte und an der Staatsoper heuer im Frühjahr zuerst als Stream und dann vor Publikum vorgestellt wurde, läuft längst wieder unter dem ursprünglichen Titel, hat aber dennoch mit Goethes Faust I. Teil, wie auch mit Gounods Adaptierung nur wenig zu tun.

Aus dem Original-Faust, einem wissensdurstigen, lebenshungrigen, ausgelaugten Mann in der midlife-crisis, der mit seinem Latein am Ende ist, sein Leben beenden will und mit Satans Hilfe einen neuen Anlauf unternimmt, ist bei Castorf ein uninspirierter, heruntergekommener Sandler geworden. Ein notgeiler Latelife-Crisler, der nur noch nach Frischfleisch giert und das in der Person der Marguerite findet, die auf der Leinwand in einer Videoeinspielung – bekanntlich Castorfs Markenzeichen – einmal tatsächlich als Fleischhauerin beim Zerlegen eines Schweins zu sehen ist. Dass dieser Mann dann von seinem Lebensberater namens Mephistophéles stets als „Herr Doktor“ tituliert wird, wirkt nur lächerlich. Aber darunter hatte auch Juan Diego Florez bei der Premiere bereits zu leiden.

Da der für diese Titelpartie vorgesehene Stephen Costello kurzfristigst wegen Erkrankung ausfiel, kam in buchstäblich letzter Minute der sardische Tenor Francesco Demuro angereist und lernt seine Partnerin – wie Staatsoperndirektor Roscic vor Beginn erklärt – vermutlich tatsächlich erst auf der Bühne kennen. Ein schwieriges Unterfangen in dieser komplexen, schmierigen Inszenierung, das er aber überraschend gut bewältigt.

Logistisch ist die Vorstellung damit gerettet, gesanglich aber merkt man doch, dass Demuro zu wenig Zeit zum Einsingen zur Verfügung gehabt haben dürfte. Die Spitzentöne – und davon gibt es von Beginn an jede Menge – klingen überanstrengt, was sich im weiteren Verlauf bessert, aber so richtig überzeugen kann Francesco Demuro, der in Wien vor rund zehn Jahren als Nemorino, Rodolfo und Alfredo Germont ohne nachhaltige Spuren zum Einsatz kam, auch in dieser Rolle nicht.

Dass sich dieser Faust nur schwer durchsetzen kann, liegt auch daran, dass er stimmlich im Schatten von Rachel Willis-Sörensen steht, die mit ihrem dramatischen Sopran zwar stimmlich imponiert, für das in Fausts Liebesbeteuerungen stets als „zart und unschuldig“ beschriebene Gretchen aber doch zu wuchtig in Erscheinung tritt. Doch diese auf Goethe zurückgehende Charakterisierung gilt ganz offensichtlich nicht für Castorfs Interpretation, der sie als verruchte, vermutlich potrauchende Fleischhauerin im Dunst der Halbwelt auf die Bühne bringt.

Wenn Marguerite ungläubig und neugierig die ihr von Faust geschenkten Ohrringe anprobiert, wirkt in dieser Szene üblicherweise der Kontrast des glitzernden Schmucks zu ihrer schlichten Erscheinung. Castorfs Marguerite aber erscheint in einem von Edelsteinen funkelnden Kleid, mit einer Krone auf dem Haupt. Eine Königin der Nacht, für die solche Geschenke ohnehin nichts Neues sind.

Im Lichte dieser Umdeutungen Castorfs würde man der Aufführung daher auch nicht den Titel Marguerite verpassen. Zum Glück gibt es da aber noch das drollige, die Augen rollende Mephistöfelchen, das munter und gar nicht furchterregend durch die Handlung führt.

Adam Palka, der schon bei der Premiere dabei war, bringt so darstellerisch Farbe in die Aufführung und ist auch stimmlich tadellos. Mit dieser Charakterzeichnung Castorfs lässt sich‘s leben. Ein possierliches Unterteufelchen, unterhaltsam und irgendwie sympathisch, stets an der Kippe sich lächerlich zu machen – und vor allem stets für einen Lacher gut. Und da man sich weder mit Faust noch mit Marguerite identifizieren kann, gerät in dieser Inszenierung diese Figur aus der Unterwelt in den Fokus. Castorfs Inszenierung verdiente daher eindeutig einen neuen Namen: Mephistophéles.

In der von Bertrand de Billy dramatisch spannend und farbenprächtig geleiteten Aufführung, in der Castorfs Überfülle an Geschehen, simultanen Standplätzen und Videoeinspielungen die Musik leider allzu oft in den Hintergrund rückt, wirken – wie schon in der Premiere – Étienne Dupuis als markig-strammer Valentin und Monika Bohinec als mysteriöse Marthe mit, die auch textfremde politische Parolen zu rezitieren hat. Margarete Plummer gibt ein tadelloses Rollendebüt als Transgender- Siébel und Ilja Kazakov aus dem Opernstudio kommt erstmals als zackiger Wagner zum Einsatz.

Stark gefordert – auch darstellerisch mit wechselnden Aufgaben betraut – ist der Staatsopernchor, der sich in unübersichtlichen Situationen bestens bewährt.

Während der Aufführung sind nur höfliche Beifallsbekundungen zu registrieren. Der Schlussapplaus fällt dann recht überschwänglich aus, ist auch anhaltender und gilt wohl in erster Linie den musikalischen Leistungen und der tapferen Bewältigung der oft krassen darstellerischen Herausforderungen.

Ob diese Inszenierung repertoiretauglich ist, wird sich weisen.

Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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