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Alois Schöpf
Keine Zeit zum Proben
Musik-Essay

Auch Blasmusik-Dirigenten sind ehrgeizige Menschen. Sie wollen ihr vor allem aus Amateuren bestehendes Orchester besser machen, dazu werden sie schließlich engagiert. Daher neigen sie oft dazu, Werke für das Programm auszuwählen, die gerade noch machbar bzw. schlicht und einfach zu schwierig sind, um jemals erfolgreich und vertretbar aufgeführt zu werden.

Letzteres führt zu einer oft peinlichen Programmänderung, sofern ein Verein über ausreichend couragierte Musikerinnen und Musiker verfügt, die ihrem künstlerischen Leiter die Wahrheit zu sagen wagen und ihn von seinen Wahnideen abbringen. Sollte er hingegen uneinsichtig bleiben, steht wieder einmal einer landauf, landab diagnostizierbaren musikalischen Peinlichkeit nichts im Weg.

Nicht minder problematisch ist der Fall bei Stücken, die gerade noch in den Leistungsrahmen eines Orchesters zu passen scheinen, jedoch bei genauerer Betrachtung und Analyse dennoch zu schwierig sind. Wenn sie dennoch aufgeführt werden, hat dies Proben zur Folge, die mehr an die Dressur intelligenter Primaten denn an ein freiwilliges Zusammenkommen von Musikbegeisterten erinnern.

Dies bezieht sich in gleicher Weise auf Teilproben, bei denen auf technischen Schwierigkeiten herumgeritten wird, die, wenn es ernst wird, aus Gründen der Nervosität dann doch nicht bewältigt werden. Es bezieht sich aber auch auf Tuttiproben, bei denen – im Sinne des Klangausgleichs und der korrekten harmonischen Fortschreitung – ein Werk so lange durchgekaut wird, bis man als Musiker, wenn die Aufführung naht, eigentlich keinerlei Lust mehr verspürt, es überhaupt noch zu spielen, geschweige denn Musizierfreude aufkommen zu lassen. Leider weiß ich sowohl als Täter-Dirigent wie auch als Opfer-Musikant, wovon ich spreche.

Diesem Opferstatus entging ich übrigens mit vielen meiner Kolleginnen und Kollegen in den letzten Monaten durch die Corona-Pandemie, die Proben überhaupt verunmöglichte, sodass, als die Schutzmaßnahmen endlich gelockert wurden, nur wenig Zeit blieb, ein Programm, in diesem Fall zwangsweise ein sehr leichtes, einzustudieren.

Umso größer und auch hörbarer war denn auch die Freude, dass nach wenigen Proben, bei denen auch unserem ehrgeizigen Kapellmeister die zeitlichen Ressourcen fehlten, seine üblichen Folterinstrumente auszupacken, bereits ein Konzert gespielt werden konnte: vielleicht nicht perfekt, aber ganz eindeutig getragen vom Glück, gemeinsam und aus einer kreatürlichen und möglicherweise nicht ganz zivilisierten, dafür aber umso ursprünglicheren Lust heraus musizieren zu können. Ja, diese ersten Konzerte nach Monaten der Untätigkeit beglückten uns und wir konnten dieses Gefühl auch dem Publikum vermitteln, wenngleich kritische Ohren, vor allem von eventuell anwesenden Dirigenten-Kollegen, an dieser oder jener Stelle sicherlich etwas auszusetzen gehabt hätten.

Der Grund, dass übrigens bei sogenannten Wertungsspielen, zumindest in unseren Landen, das Publikum nur sehr kärglich anwesend ist, besteht sicherlich auch darin, dass eine korrekte, nach den Maßstäben der internationalen Juryvorgaben streng abgestimmte Aufführung eines Stückes eigentlich, sagen wir es einmal ganz drastisch, mit Musik sehr wenig zu tun hat. Das Mitreissende an Musik ist nämlich die Leidenschaft, die in sie hineingelegt wird. Die Unbedingtheit, mit der sie verwirklicht werden will. Das Engagement der Musizierenden!

Ich erinnere mich, dass ich vor Jahren im Archiv des Österreichischen Rundfunks eine Aufnahme des hierzulande sehr bekannten Ruetz-Marsches suchte und dabei die Wahl zwischen acht verschiedenen Varianten hatte, um damit eine Hörfunksendung zu eröffnen. Ich wählte als die für mich beste jene aus, bei der die Stimmung schlicht und einfach eine Katastrophe war, viel zu laut und zu brutal gespielt wurde, aber insgesamt dennoch der sogenannte „Approach“ oder „Blues“ oder „Groove“, wie immer man das ausdrücken mag, das Wesen des Stückes besser traf als alle anderen, gepflegt und diszipliniert gespielten Varianten.

Es ist eine große Kunst, zwischen der Fron der Probenarbeit und der Musizierlust des Orchesters den richtigen Ausgleich zu finden. Viele Dirigenten neigen zur Ansicht, dass sie, weil sie als solche bestellt wurden, alles besser wissen müssen, und verkennen dabei, dass sich die meisten Orchester nicht nur innerhalb eines schwer veränderbaren Leistungsrahmens bewegen, sondern auch über die Jahrzehnte ihres Bestandes eine gewisse Musiziertradition entwickelt haben, die vielleicht nicht den Maßstäben einer Jury entspricht, jedoch ihre je eigene, vielleicht sogar dörflich unverwechselbare Musikalität vermittelt.

Wenn diese besondere Stilistik durch zu intensive, hochschulkompatible Probenarbeit gestört und in der Folge sogar zerstört wird, bleibt oft die große Frage zurück, ob an ihre Stelle etwas Neues tritt, ein besserer, den zeitgeistigen Maßstäben des Musizierens angepassterer Stil? Oder ob zuletzt nur noch gepflegte Langeweile übrig bleibt? Lustlose Musikerinnen und Musiker und das freudlose, weiterhin fehlerbehaftete Exekutieren eines vorliegenden Notenmaterials!

Ich würde niemals für mich in Anspruch nehmen, eine allgemein gültige Regel zur Aufrechterhaltung dieser heiklen Balance gefunden zu haben. Als Musiker, der versucht, alle Dirigenten kompetent und sympathisch zu finden, die sich vor mir aufbauen, kann ich nur sagen, dass es mir am liebsten ist, wenn Werke nach einem ersten Durchspielen, welches klären soll, ob sie überhaupt aufgeführt werden können, zuerst in Detailproben rein technisch einstudiert und danach Stimmgruppe für Stimmgruppe zu einem Gesamtklang zusammengefügt werden.

Ich habe mich noch nie darüber geärgert oder die Lust verloren, wenn Stellen, die spieltechnisch nicht bewältigt wurden, so lange geprobt d.h. wiederholt werden mussten, bis sie endlich bewältigt wurden, eine Arbeit, die das selbst auferlegte Übungspensum des Einzelstudiums in diesem Fall in der Gemeinschaft bewältigt.

Ärgerlich wird es hingegen meist dann, wenn technische Probleme, die in einem Amateurorchester die häufigsten Ursachen allfälligen Scheiterns sind, mit einer künstlerisch orientierten Interpretation vermischt werden, und sich beide Bereiche, das Technische und das Künstlerische, gegenseitig konterkarieren.

Es kann nämlich nicht schön und künstlerisch hochwertig gespielt werden, wenn immer noch falsch gespielt wird. Und es ist schlicht unmöglich, für ein Publikum bezaubernde Musik zu machen, wenn technische Probleme Fragen der Dynamik oder der Agogik erst gar nicht in den Fokus der an ihren Läufen oder an Tonhöhen scheiternden Musikerinnen und Musikern geraten lassen.

Zwischenbemerkung: Das vollkommen nüchterne Herangehen an ein Werk über die Technik hilft übrigens ohne weitere emotional eingefärbte Interventionen dabei, schlechte oder unverlässliche Musikerinnen und Musiker dazu zu bewegen, ihre Leistungsbereitschaft und in Folge ihre Leistung entweder zu steigern oder aufgrund ihres immer wieder augenscheinlichen spielerischen Scheiterns aus dem Verein auszutreten und ihn somit, drastisch formuliert, von ihrem asozialen Nichtkönnen zu entlasten.

Die konsequenteste Durchführung des Prinzips, technische Probleme scharf von den Anforderungen der künstlerischen Interpretation zu trennen, würde sich dann ergeben, wenn nach korrekter Bewältigung der ersteren ein eigener Dirigent in wenigen und intensiven Proben sich mit hoher künstlerischer Kompetenz auf die Interpretation der verschiedenen Programmpunkte konzentrieren könnte.

Dies würde dann genau jene Unlust verhindern, die bei einer eher planlosen Herangehensweise an die Vorbereitung einer Aufführung allzu oft aufkommt und die, wie eingangs erwähnt, durch die Notwendigkeit, in kurzer Zeit ein Konzert vorzubereiten, Corona-bedingt und zur Freude vieler Beteiligten in diesem Jahr entfiel.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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