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Manfred A. Schmid
Das Don Giovanni-Geheimnis hat Barrie Kosky gelöst:
Es gibt gar keines.
Mozarts Dramma giocoso
vor Publikum an der Wiener Staatsoper

Vorbemerkung:


Alle Streaming- und TV-Premieren im Frühjahr und Herbst habe ich mitverfolgt, mich aber aus grundsätzlichen Überlegungen geweigert, sie zu rezensieren, da der Blick auf die Bühne durch die vom Aufnahmeleiter gewählten Blickwinkel und Bildausschnitte gelenkt und gegängelt wird.


Auch eine Beurteilung der stimmlichen Leistungen schien mir im Vergleich zum Live-Erlebnis im Haus alles andere als fair zu sein. Zudem ist nicht zu vergessen, dass bei den gestreamten Aufführungen immer eine kleine, elitäre, privilegierte Schar von Opernkritikern, die in die Staatsoper eingeladen wurden, vor Ort dabei sein konnten, während Redakteure des Online-Merker oder des schoepfblog aus nicht nachvollziehbaren Gründen stets ausgesperrt blieben.


Schreibe ich unter diesen Bedingungen eine Kritik, schreibe ich über ein gänzlich anderes Ereignis, weil ich von einer anderen Grundlage ausgehe. Da ich aber auch auf diesem Gebiet Chancengleichheit im Sinne der Pressefreiheit für wichtig halte, habe ich diese Form der Mitarbeit verweigert. Man könnte in der konsequenten Aussperrung von unliebsamen Redakteuren durchaus eine Form vorbeugender Zensur oder eine Bestrafungsaktion für ungebührliches Verhalten – die Ausübung objektiver und sei es manchmal auch unbequemer Kritik – sehen.


Wir lassen uns dadurch aber nicht mundtot machen und werden weiterhin keine Gefälligkeitskritiken erbringen, was uns umso leichter fällt, da wir unsere Karten für Staatsopernaufführungen immer schon aus eigener Tasche bezahlt haben.


Zwei Erfahrungen

…haben mir inzwischen bestätigt, dass mein Entschluss richtig und wohlbegründet war: So hat mir im Streaming etwa Frank Castorfs Faust-Inszenierung weitaus besser gefallen als später in der Aufführung vor Publikum. Da man auf dem Bildschirm kaum je den freien Blick auf das Bühnenbild hat, sondern meist jenen Bildausschnitt zu sehen bekommt, wo gerade das Wichtigste geschieht, war die Konzentrationsfähigkeit nicht so heillos überstrapaziert wie beim Live-Erlebnis vor Ort, wo einen die Fülle an simultanen Parallelaktionen und Videoeinspielungen alsbald ermüdete.

Im Fall von Koskys Don Giovanni ist es gerade umgekehrt – und damit beginnt nun die eigentliche Rezension.

Warum Katrin Lea Tag die Mozart-Oper ausgerechnet in eine düstere Mondlandschaft bzw. unwirtliche, erstarrte Lavawüste verlegt, und wie es möglich ist, dass dort beim Maskenfest  plötzlich üppiges Grünzeug in den Himmel wächst, wenn es nicht gerade als gemüsiger Kopfschmuck zur Verwendung kommt, will sich auch beim zweiten Mal Ansehen nicht erschließen. Zu Stein erkaltete Leidenschaften? – Hilft auch nicht weiter.

Immerhin aber wirkt die Landschaft nun weniger rabenschwarz und trostlos, sie glänzt sogar ein bisschen, und im 2. Akt kann sie sogar mit einem riesigen, anthrazitartigen Bergkristall aufwarten, der wie eine Kriegsruine emporragt und Platz für allerlei Begegnungen schafft.

Man gewöhnt sich bald an dieses merkwürdige Bühnenbild, was wohl auch damit zusammenhängt, dass es den Handlungsverlauf weiter nicht stört und dem Regisseur vielmehr genügend Platz und Varietät für das Auf und Ab der Begegnungen bietet.

Überhaupt ist festzuhalten, dass die Personenführung Barrie Koskys sehr klar und damit der Nachverfolgung des nicht immer einfachen Verlaufs der Handlung dienlich ist. Beim Singen stehen die Protagonisten meist im Vordergrund und dem Publikum zugekehrt, sowie – fast immer – im Zentrum, so dass auch die Seitengalerie etwas von dem Gebotenen mitbekommt.

Nicht zufriedenstellend ist hingegen, was Kosky zur Figur Don Giovannis eingefallen ist. Dazu ist ihm nämlich so gut wie nichts eingefallen. An der Seite von Don Quijote und Faust gehört Don Juan zum großen Männer-Dreigestirn des abendländischen Denkens. Versuche, Psyche, Beweggründe und Verhalten dieses Prototyps des Frauenhelden zu ergründen und zu erklären, füllen Bände, und das seit Jahrhunderten. Zu erwähnen u.a. Moliere, Kierkegaard, Nietzsche, Bloch, Frisch und Camus. Hunderte weitere Namen aus der Geistesgeschichte verdienten es, angeführt zu werden.

Und dann kommt Barrie Kosky und sagt bzw. zeigt: Leute, tut mir leid, da gibt es nichts zu deuteln und zu deuten. Don Giovanni ist einfach ein mieser Typ, der mit Brutalität holt, was er will. Punkt aus. Und so eindimensional wird er in dieser Inszenierung auch präsentiert. Nicht einmal der Funken einer Interpretation ist erkennbar.

Und am Ende erhebt sich Koskys Don Giovanni, tritt einfach ab, so als ob er sich ein für alle Mal aus der Geschichte stehlen würde. Doch Koskys gestalterische Bankrotterklärung in Sachen Don Giovanni/Don Juan ist nicht das Ende. Der Beweis dafür: die vielschichtige Deutung seines Charakters und seiner Motive, wie sie von Mozart und Da Ponte in dieser Oper dargelegt wird. Sie widerspricht ihm in jeder Silbe und in jeder Note. Und kann so jederzeit gegen ihn verwendet werden. Barrie Kosky in flagranti ertappt.

Besetzungsmäßig wird in dieser Aufführung auf Sparflamme gekocht. Kyle Ketelsen (Don Giovanni) und Philippe Sly (Leporello) haben, so liest man, in ebendiesen Rollen an der Oper von Lyon erstmals auf sich aufmerksam gemacht. Man hätte sie dort lassen sollen.

Für Wien sind ihre Baritone, vor allem jener von Sly, der dafür recht munter, wenn auch zuweilen etwas tuntig agiert, nicht groß genug. Nachteilig wirkt sich auch aus, dass beide timbremäßig zu ähnlich klingen. Das mag zwar bei ihrem Tausch der Identitäten ideal sein, ist aber sonst nur ein Nachteil. Was Ketelsen darstellungsmäßig zu leisten imstande ist, kann er in Koskys Regie jedenfalls nicht ausspielen, sogar als wandelndes Ekel vermag er nicht zu punkten.

Viele Mätzchen des derzeitigen Regietheaters – wie etwa den Einsatz von Rollstühlen – hat Barrie Kosky diesmal immerhin ausgelassen (wäre im Fall eines Rollstuhls auf dieser Bühne allerdings eine interessante Herausforderung gewesen) und wurde dafür merkwürdigerweise schon gelobt. Einem hat er allerdings nicht widerstehen können: Die unbedingt notwendige Installierung einer Wasserstelle. Und so können Leporello und sein Chef in einer Wasserpfütze spielen und einander einen Gesteinsbrocken, der das Denkmal des Komturs darstellen soll, zuwerfen. Und da es Wasser gibt, wird dafür im Gegenzug – bei der ohnehin nicht stattfindenden Höllenfahrt – auf den Einsatz von Feuer und Flammen gänzlich verzichtet.

Wenn in der Oper Don Giovanni der Titelheld keinerlei Ausstrahlung hat, kein Geheimnis, kein Rätsel darstellt, fehlt der Mittelpunkt. Unverständlich bleibt daher auch die geradezu manische Bindung Donna Elivras an diesen Fiesling. Was sie an ihm findet, ist diesmal noch weniger zu begreifen als sonst. Dabei gäbe es da einige Anhaltspunkte, was die Faszination von Schurken und Verbrechern ausmacht: Stichwort Jack Unterweger.

Aber, wie bereits festgestellt, Barrie Kosky hat diesmal jeder Deutung abgeschworen. Daher wankt Kate Lindsey hier nur als zu bemitleidenswerte psychisch Kranke durch die Wüste der Inszenierung. Dazu passt leider auch das Gepiepse, wenn sie mit hohen Tönen unbeirrt um Giovannis Zuneigung wirbt. In der Mittellage ist ihr Mezzosopran hingegen durchaus zufriedenstellend.

Nicht groß genug ist auch die Stimme von Hanna-Elisabeth Müller, es gelingt ihr aber dennoch, ihr traumatisches Erlebnis in der Arie „Or sai chi l’onore“ mit Anstand zu reflektieren. Da zudem auch Ain Angers Komtur eine Enttäuschung ist und als Bass, der aus dem Jenseits kommt, viel zu harmlos klingt, erweist sich Stanislas de Barbeyrac in der Rolle des Don Ottavio als die stärkste Besetzung in den zentralen Partien. Sein heller, warmer Tenor erinnert in den besten Momenten an den Mozart-Tenor Michael Schade.

Peter Kellner ist ein zuverlässiger Masetto, Patricia Nolz aus dem Opernstudio bringt als Zerlina, nach erfolgreichen Einsätzen u.a. als Kate Pinkerton und Cherubino, einen weiteren Beweis ihres Könnens. Auf die weitere Entwicklung dieser hoffnungsvollen, auch darstellerisch überzeugenden Sängerin kann man mit Recht neugierig sein.

Philippe Jordan als musikalischer Leiter hat sich in dieser Aufführung ein gutes Stück weiter in das Mozart-Fach eingearbeitet. Damit aus der Paarung Philippe Jordan & Staatsopernorchester der angekündigte neue Wiener Mozart-Klang entsteht, ist freilich noch einiges zu tun.

Viel Applaus im sehr gut besuchten Opernhaus zeugt nicht zuletzt auch davon, dass alle Welt glücklich ist, wieder dabei sein zu dürfen.

Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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