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Manfred A. Schmid
Eine Komödie im Schatten
von Tod und Endlichkeit
Zur Premiere von
DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG
an der Wiener Staatsoper

„Ja, das ist doch etwas anderes,“ singt der Chor im 3. Aufzug von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg, nachdem Walther von Stolzing sein Preislied zum Besten gegeben und dabei das Ausdruckspotenzial der Meistersinger erweitert und einige ihrer strengen, die Kreativität einengenden Regeln gebrochen hat.

Das gilt auch für Keith Warners Neuinszenierung, die die vertraute, aber schon zehn Jahre nicht mehr im Repertoire vertretene Inszenierung von Otto Schenk ablöst. Was Warner auf die Bühne stellt, folgt dem – im Sinne der Idee vom Gesamtkunstwerk – ebenfalls von Wagner stammenden Libretto.

Da wird nicht mit folgenschweren, widersprüchlichen Umdeutungen herumexperimentiert, sondern eine Geschichte so erzählt, wie sie im Büchel steht. Dennoch ist das, was dabei herauskommt, „etwas anderes“: Warner setzt den Schwerpunkt voll auf die Person des Hans Sachs, Schuhmacher und Poet dazu, wie dieser sich selbst bezeichnet, und macht sich daran, dessen Innerstes auszuloten sowie aufzuspüren, was ihn antreibt und bewegt.

Als sein Kollege, der Goldschmied Veit Pogner, seine Tochter Eva als Preis für das beste Meisterlied aussetzt, nicht ohne ihr dabei das letzte Entscheidungsrecht einzuräumen, träumt Sachs davon, dass er der Bräutigam sein könnte. Erst als er mitbekommt, wie sich Eva Hals über Kopf in den eben erst in der Stadt angekommenen Ritter Walther von Stolzing verliebt, nimmt er davon schweren Herzens Abstand und verhilft den beiden zu ihrem gemeinsamen Glück.

Üblicherweise wird dieser Verzicht mit dem großen Altersunterschied zwischen Sachs und Eva erklärt. Warner aber gräbt tiefer und entdeckt das Memento Mori als wahren Grund für dessen Rücktritt.

Im 2. Aufzug hat der Nachtwächter (Peter Kellner) seinen Auftritt. Als er nach der großen Rauferei erneut seine Runde macht, taucht er plötzlich in der Gestalt eines Sensenmannes auf, der mit der Sense in Richtung Hans Sachs ausholt. Dass damit eine traumatische Erfahrung festgemacht ist, bestätigt sich dann erneut im 3. Aufzug auf der Festwiese, wenn sich die Tribüne für den Auftritt von Sixtus Beckmesser (und später auch von Stolzing) aufklappt und den Blick auf einen Grabhügel mit einem großen und mehreren kleinen weißen Kreuzen freigibt: Seine Frau, die zuvor schon einmal als Erscheinung aufgetreten ist, und seine Kinder liegen dort begraben.

Dass er verwitwet ist und Kinder hatte, hat er zuvor, Stolzing gegenüber, bereits eingeräumt, ohne weiter darauf einzugehen. Hans Sachs sinkt zu Boden und wirft sich auf das Grab. Vermutlich gibt der Regisseur mit dieser Entdeckung eine Antwort auf die oft gestellte Frage, warum Wagner dieses Werk doch nicht als komische Oper bezeichnen wollte, sondern letztendlich die schlichte Gattungsbezeichnung Oper in drei Aufzügen gewählt hatte.

Finden Humor und Lachen im Grunde nicht immer im Schatten des Todes und der Endlichkeit statt? Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Wagner für die Meistersinger die Arbeit an Tristan und Isolde unterbrach (und in den Meistersingern das Liebesmotiv daraus zitiert).

Nach einer kurzen Verweildauer geht das Fest zum Johannistag mit dem Gesangswettbewerb weiter. Beckmesser blamiert sich bis auf die Knochen, Stolzing geht als Sieger hervor und Hans Sachs hält seine berühmte und oft auch als berüchtigt empfundene Rede an die Festgäste, die von Keith Warner aber ohne viel Aufhebens abgehandelt wird.

Einige Chormitglieder halten Sachs die Rückseite der Notenhefte entgegen, auf der sie dazu wohl Stellung beziehen. Von der Galerie aus war aber nicht zu entziffern, was da mitgeteilt werden sollte.

Michael Volle ist eine großartige Besetzung für diese vielschichtige Rolle. Mit seinem ausdrucksstarken Bariton und seiner Darstellungskunst kann Volle das breite Spektrum des Charakters, die Höhen und Tiefen eines weisen, lebensklugen, vom Leben aber auch schwer gebeutelten Mannes voll ausbreiten. Witz und Schlagfertigkeit sowie die nach außen hin bezeugte Ruhe und Gelassenheit können das Brodeln in seinem Inneren und die tragischen Züge eines zur Melancholie neigenden Schuhmachers, der in der Poesie Zuflucht findet, auf Dauer nicht überdecken.

Dass er von Zweifeln und Zwängen heimgesucht wird, geht auch aus seinen Begegnungen mit einem Kobold hervor, dessen übergroßer Kopf die Züge von Friedrich Nietzsche trägt. Trotzdem ist dieser Hans Sachs der stabile Fels in einer Brandung sich ankündigender gesellschaftlicher Veränderungen.

Eine einfühlsame Behandlung seitens der Regie erfährt auch der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser. Er, früher oft als lächerliche Figur dargestellt, ist – in letzter Zeit als Opfer antisemitischer Hetze identifiziert – nicht mehr ganz so eindimensional zu sehen. Bei Keith Warner ist er ein Mann, für den man letztlich Mitleid empfinden kann. Dass er selbst mit daran schuld ist, in diese missliche Lage hineingeraten zu sein, indem er einen bei Hans Sachs gefundenen Liedtext als seinen eigenen ausgibt und diesen dann nicht zureichend zu lesen bzw. zu singen imstande ist, wäre dann als „self fulfilling prophecy“ zu werten.

Wie er nach seinem vor vollen Zuschauerrängen erlittenen Debakel am Rand der Tribüne wie ein Häufchen Elend kauert, ist tatsächlich kaum auszuhalten. Ein tragisches Schicksal, von Wolfgang Koch erschütternd auf die Bühne gebracht.

Die Handlung lässt Keith Warner in Nürnberg spielen, will sich aber zeitlich nicht festlegen lassen. Einmal wird zwar ein mittelalterliches Stadtbild eingeblendet, das dann später, in Streifen geschnitten, die hintereinander aufgestellt sind, auch bewohnt wird (Bühne Boris Kudlicka, von dem auch die transparenten, mobilen Stiegenhäuser stammen).

Die Kostüme von Kaspar Glarner reichen von altdeutschen, dunklen Trachten über Kleider aus den 30-er und 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Auch wenn beim Wiesenfest ein Fotograf ein Gruppenfoto macht, weiß man, dass hier die Zeitengrenzen verschwimmen. Als Stolzing zum Sieger gekürt wird, werden bei der Abstimmung Karten mit einer aufgemalten 10 in die Höhe gehalten: Deutschland sucht den Superstar.

Die Abwehrhaltung der Meistersinger bei ihrem ersten Treffen mit Walther Stolzing ist nicht nur eine Reaktion der Traditionsbewahrer, die ihre Ordnung bedroht sehen, sondern verweist auch auf den ewigen Konflikt Jung gegen Alt.

Stolzing, selbst ein verarmter Ritter auf der Suche nach einem neuen Betätigungsfeld, hat die Vergangenheit hinter sich gelassen und die Zukunft im Blick. Meister in Nürnberg will er jedenfalls nicht werden, und es ist kaum zu erwarten, dass sich – nach dem eindringlichen Plädoyer von Hans Sachs, Verachtet mir die Meister nicht – an dieser Position etwas ändern wird.

David Butt Philip, der jüngst als Laca in Jenufa sein viel beachtetes Hausdebüt hatte, ist ein guter Stolzing. Sein Tenor ist ausgeglichen in den Stimmlagen, ziemlich lyrisch, aber auch von einer vibrierenden Qualität in der höheren Lage, was seiner schwärmerischen Arie Morgendlich leuchtend im rosigen Schein … nur zugutekommt.

Stolzings Angebetete, Eva, wird von Hanna-Elisabeth Müller mit feiner Sopranstimme dargestellt. In dieser Rolle wirkt sie um einiges sicherer als in Barrie Koskys Don Giovanni-Inszenierung, ebenfalls an der Staatsoper Wien, wo sie als Donna Anna, hinsichtlich ihrer stimmlichen Durchsetzungskraft, an ihre Grenzen stößt.

Georg Zeppenfeld als Evas Vater ist ein souveräner Veit Pogner. Als Goldschmied der reichste Mann im Bund der Meistersinger, die bei ihren Aufmärschen mit einer Stola ausrücken, auf der das Symbol des Notenschlüssels für die Altstimme gestickt ist, präsentiert er sich als souveräner, selbstbewusster Geschäftsmann. Sein Wohlstand, aber auch seine wohltönende Bassstimme garantieren Sicherheit.

Michael Laurenz begeistert als quicklebendiger Lehrbub David mit frischer Tenorstimme und jugendlichem Übermut. Unglaublich, dass der jetzt freischaffend tätige Tenor in seiner Zeit als Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper den Josef K. in Gottfried von Einems Kafka-Oper Der Prozess konzertant im Rahmen der Salzburger Festspiele gesungen hat, und jetzt als Lausbub/Lehrbub in der Schusterwerkstatt, über Kisten hüpfend, das Weite sucht und der doch um einiges älteren Amme Magdalene, über beide Ohren verliebt, den Hof macht.

Christina Bock ist eine herbe Magdalene, die unter ihrer etwas brüsken Haltung ein großes Herz zu verstecken scheint.

Aus der beachtlichen Besetzungsliste der Meistersinger seien noch Jörg Schneider (Kunz Vogelsang) und Stefan Astakhov (Konrad Nachtigall) hervorgehoben.

Ein Höhepunkt des fast fünfeinhalbstündigen Opernabends ist das grandios dargebotene Quintett von Sachs, Eva, Walther, David und dessen Braut Magdalene, in dem jeder aus seiner Sicht das Glück der Stunde preist.

Nach einem etwas unausgeglichenen ersten Aufzug, bei dem die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne gefährdet sind, vom Getöse aus dem Orchestergraben immer wieder zugedeckt zu werden, entwickelt sich der weitere Verlauf als Triumph für Philippe Jordan, zum Teil gewiss auch inszeniert als trotzige Wiedergutmachung für die miese Behandlung, die der Musikalische Direktor der Wiener Staatsoper vor wenigen Wochen über sich ergehen lassen musste und die zu seiner Erklärung des Rücktritts nach dem Auslaufen des Vertrags 2025 geführt hat.

Noch bevor der erste Ton erklingt, wird er bei jedem Aufzug stürmisch gefeiert, und beim Schlussapplaus landen Blumensträuße vor seinen Füßen. Seine musikalische Leistung ist auch tatsächlich imponierend und wird mit reichlichem, starkem, trotz der Länge der Vorstellung anhaltendem Schlussapplaus, auch für die Chöre, belohnt.

Ein paar Buhrufer beim Auftritt von Regisseur Keith Warner und seinem Team haben kaum Chance, sich Gehör zu verschaffen. Für Warner aber gilt, abgesehen von ein paar Schwachstellen wie die rätselhaften Balletteinlagen (Choreographie Karl Alfred Schreiner) oder der nicht sehr inspirierten Bühne, ein weiteres Zitat aus der Oper: Das hast du wieder gut gemacht.

Es ist zwar seine erste Theaterarbeit an der Staatsoper, an der er aber als Wiederholungstäter gerne wieder willkommen geheißen wird.

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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