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Manfred A. Schmid
Die Moritat vom zahnlosen Haifisch
Wie die Dreigroschenoper an der Volksoper Wien
zu einer niedlichen Operette entfremdet wird.

„Unaufhörlich müssen wird darüber nachdenken, wie das Theater sein müsste, damit es dieser Zeit, die sich von anderen Zeiten zumindest nicht weniger unterscheidet als jede Zeit von jeder anderen Zeit, etwas zu sagen habe.“ (Bert Brecht: Aufruf an die Theater)

Die späten 20-er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als Die Dreigroschenoper entstand und uraufgeführt wurde, waren geprägt von Massenarbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise. Fast hundert Jahre nach der Uraufführung sehen sich die Menschen wiederum von zunehmender Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Krisen bedroht.

Modelle wie Bitcoin und Börsenspekulationen legen den Verdacht nahe, dass Brechts kapitalismuskritische Erkenntnis Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank, die er Mackie Messer in den Mund legt, weiterhin durchaus diskussionswürdig sein dürfte.

Andererseits muss zur Kenntnis genommen werden, dass die Welt sich in vielen wesentlichen Bereichen stark verändert hat. Themen wie Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung, Migration und dergleichen haben damals in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle gespielt. Was das Theater heute zu sagen habe, ist daher eine Frage, die sich jede Regisseurin und jeder Regisseur stellen muss, wenn eine Inszenierung ansteht.

Brechts Die Dreigroschenoper, mit der kongenialen Musik von Kurt Weill, gibt für allfällige Anpassungen zum Glück den Theaterleuten ein wichtiges Instrument in die Hände: Den Verfremdungseffekt, ein Grundprinzip des von Brecht entwickelten Epischen Theaters, das er in seinen Werken selbst angewendet hat:

Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte und Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.

Genau dieses, kurz auch V-Effekt genannte Verfahren wendet Regisseur Maurice Lenhard in seiner Inszenierung der Dreigroschenoper an der Volksoper Wien, in der alles ein bisschen anders und vor allem bunter sein soll, auch an: Die Rolle des Macheath (auch Mackie Messer genannt) wird hier erstmalig, wie betont wird, von einer Frau gespielt. Damit will Lenhard das Publikum, das sich möglicherweise schon zu sehr an den oft gerne als zynischen Macho dargestellten Gangsterboss gewöhnt hat und das als etwas Selbstverständliches ansieht, überraschen und irritieren.

Das mit der Erstmaligkeit stimmt im Übrigen nicht: Bereits 2012 trat am Hessischen Landestheater Marburg eine Frau in dieser Rolle auf, ebenso war dies im März 2022 am Theater Regensburg der Fall. Noch ein weiterer Hinweis für die Dramaturgie des Hauses: Der Autor der Dreigroschenoper heißt Bertolt (oder Bert) Brecht, keinesfalls aber Bertholt Brecht, als der er auf dem Besetzungszettel angeführt wird.

Zu hinterfragen wäre allerdings, welchen Gewinn diese Besetzung, dieser Verfremdungseffekt, mit sich bringt. Welche Erkenntnis wird dadurch vermittelt?

Möglich gewesen wäre etwa ein androgyner, dandyhafter Capo der Londoner Unterwelt. Sona Macdonalds Mackie Messer aber ist ein weiß gekleidetes, ätherisch daherschwebendes Wesen, kaum fassbar und schwer zu erfassen. Nur wenn sie singt, bekommt diese Figur ein markantes Profil. Dann klingt Macdonald wie Marlene Dietrich, wenn diese Weill singen würde.

Diese nicht wirklich durchdachte und nicht sehr gelungene Verfremdung schürt den Verdacht, dass mit dieser Besetzung nur einem Modetrend gefolgt wird, Männerrollen mit Frauen (Horváths Ein Kind unserer Zeit, Theater in der Josefstadt), Frauenrollen mit Männern (Shakespeares Was ihr wollt, Kammerspiele) oder kreuz und quer (Die Ärztin, Burgtheater) zu besetzen. Wie zum Ausgleich muss dann die Spelunkenjenny, deren Zuhälter Macheath vor Jahren gewesen war, von einem Mann (unspektakulär Oliver Liebl) dargestellt werden. Das sind ziemlich fantasielose Rochaden.

Verfremdungseffekte finden sich auch bei den Kostümen. Christina Geiger bevorzugt grelle Farben, was sich vom gewohnten Schwarz-Grau der Bettler- und Ganovenwelt abhebt. Warum aber die vom Bettler-Impresario Peachum (Carsten Süss) eingekleidete und strategisch beratene Bettlerbrigade in aufgeplusterten, fast kugelförmigen Kostümen auftreten muss, will sich nicht recht erschließen. Zitronengelb ist die aus verschachtelten, verschiebbaren Stufen bestehende Bühne von Malina Raßfeld.

Verfremdet wirkt schließlich auch die musikalische Umsetzung. In der Originalpartitur von Kurt Weill zu Brechts Ein Stück mit Musik, wie der Untertitel lautet, finden sich viele musikalische Stile vereint und genial gemixt. Es gibt wahre Operettenschlager, die von Ursula Pfitzner, eine auch darstellerisch ausgezeichnete Frau Peachum, genregerecht vorgetragen werden. Die Arie der Lucy wurde sogar für die Volksopern-Inszenierung eigens von Keren Kagarlitsky neu orchestriert. Julia Koci als Lucy singt sie mit der Hingabe einer Diva in einer Grand Opera, Augenzwinkern mit inbegriffen.

Natürlich ist das parodistisch gemeint und es verfehlt, wenn Banalitäten so pompös verkündet werden, seine Wirkung nicht. Problematisch wird die von Carlo Goldstein geleitete Aufführung aber, wenn es um die typischen Brecht/Weill-Songs geht.

Diese verlangen nämlich eine ganz eigene Art des Vortrags, eine Technik, die von Ernst Busch bis zum begnadeten Weill-Chansonnier der Gegenwart, HK Gruber, reicht. Davon ist hier leider wenig zu bemerken. Johanna Arrouas als Polly bemüht sich im Song der Seeräuber Jenny zwar einigermaßen darum, am besten gelingt es aber ausgerechnet Camillo Kirchhoff, Mitglied des Kinderchors der Volksoper, der als Moritatensänger u.a. auch den Song Und der Haifisch, der hat Zähne… lakonisch und pointiert zum Besten gibt und eine Ahnung davon hinterlässt, was den Brecht/Weill-Sound ausmacht.

Diesen eigenen Sound zur Unkenntlichkeit zu verfremden, bekommt dem Stück gar nicht gut. Brechts Bestimmung der Dreigroschenoper, als ein Versuch, der völligen Verblödung der Oper entgegenzuwirken, wird damit untergraben. Die von Maurice Lenhard und seinem Team angepeilte Verfremdung der Verfremdung geht nach hinten los.

Wie bei Premieren üblich, wird eifrig Beifall gespendet. Die ganz große Begeisterung ist jedoch nicht zu orten. Die Aufforderung, klatscht nicht so romantisch! erübrigt sich.

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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