Print Friendly, PDF & Email

Manfred A. Schmid
Der Prophet als bipolarer Kriegstreiber und Populist
Zur Neuinszenierung des Oratoriums "Elias"
von Felix Mendelssohn Bartholdy
in Retz / Niederösterreich

„Musik & Literatur – Offene Grenzen“ ist das Motto des Festival Retz, das sich durch Aufführungen von Kirchenopern längst einen klingenden Namen gemacht hat, der weit über die Grenzen des Landes hinausreicht.

Im Mittelpunkt steht heuer Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium „Elias“, in einer szenischen Aufführung, in der es ebenfalls um Grenzen geht. Um Grenzen, die man bisher – so die Meinung der Regisseurin Monika Steiner – nicht zur Kenntnis genommen hat, die aber in der Persönlichkeit und im Wirken des Propheten klar angelegt sind.

Das überlieferte Bild des Propheten aus dem Alten Testament zeigt ihn bekanntlich als einen Mann, der verbindet und eint: Jemand, der Grenzen einebnet. Nicht zufällig ist Elias seit Jahrhunderten Schutzpatron der Katholiken in Bosnien. In einem Land, das vom Zusammenleben vieler Religionen und Konfessionen geprägt ist, steht er als Garant für ein Miteinander bei aller Verschiedenheit. Zudem gilt Elias auch als Vorläufer des heilbringenden Messias.

Steiner räumt in ihrer Inszenierung mit diesen Vorstellungen, ausgehend von einer genauen Textanalyse, radikal auf. In ihrer szenischen Aufbereitung erscheint Elias vielmehr als Gotteskrieger und populistischer Kriegshetzer, der die Anhänger Baals als Gegner und Sündenbock statuiert, die es erbarmungslos auszurotten gilt.

Der Kampf gegen den äußeren Feind führt zu innerer Geschlossenheit, ist also das Resultat einer Grenzziehung. Zu den beklemmendsten Szenen der Aufführung gehört die Rückkehr der Leute, die Elias ausgesandt hat, die Anhänger Baals abzuschlachten: Ihre weißen Kleider sind blutbefleckt und geben Zeugnis von einem furchtbaren Gemetzel, das im Namen Gottes geführt worden ist.

Das bestätigt die Sinnhaftigkeit einer szenischen Gestaltung des Oratoriums, weil sie das Schreckliche und seine Folgen unübersehbar vor Augen führt.

Bis heute werden Kriege geführt, bei denen die wahren Gründe unbekannt bleiben und stattdessen angeblich unüberbrückbare Gegensätzlichkeiten und die Notwendigkeit einer Abgrenzung gegenüber den „Anderen“ und „Fremden“ vorgeschoben werden. Deshalb wird gleich am Beginn der Aufführung ein Mosaik von Bildschirmen und Monitoren auf die Rückwand der Bühne projiziert, wo unter der Schlagzeile „Breaking News“ von einem Kriegsausbruch die Rede ist und Portraitfoto von Elias zu sehen sind. Später gibt es Bombenangriffe und andere Kriegshandlungen aus letzter Zeit zu sehen.

Diese visuellen Einspielungen (Videodesign Fabian Chaundy) unterstreichen die Deutung der Regisseurin, dass die Geschichte des Propheten Elias nichts an Aktualität eingebüßt hat. Auch heute genießen Populisten, die mit Angstszenarien und billigen Lösungsvorschlägen ihre Anhänger um sich scharen und mobilisieren, eine mit dem Status von Elias vergleichbare „messianische Verehrung“, wie man am Beispiel von Donald Trump sehen kann, der von vielen als „gottgesandt“ empfunden wird.

Wegen solcher Parallelen tragen manche Personen aus dem Gefolge des Propheten auch T-Shirts, auf denen „Elias“ aufgedruckt ist. Fans, Jünger, Fanatiker. Ob es wirklich nötig ist, dass der Kriegsherr Elias schließlich mit Militärkappe und Wehrmantel wie Adolf Hitler auftritt, ist Geschmackssache, kann aber im Sinne des Regiekonzepts durchaus als stringent, wenn auch als verstörend, empfunden werden.

Da Elias unbestritten auch gute Eigenschaften hat, diese aber oft im Widerspruch zu anderen Facetten seines Wesens stehen, zeigt die Inszenierung ihn als wankelmütigen, hin- und hergerissenen, gespaltenen Charakter. Ein Mann mit einer bipolaren affektiven Störung: manisch-depressiv, wie man das früher bezeichnet hätte.

Matthias Helm in der überaus fordernden Titelpartie gelingt es, die innere Zerrissenheit und psychische Instabililität, das ständige Lavieren zwischen selbstüberschätzendem Hochgefühl und Gefühlen der Wertlosigkeit bis hin zu Todessehnsucht und Suizidgedanken ergreifend und glaubwürdig zu gestalten. Der Bariton ist aber auch ein hervorragender Sänger. Berührend in der Arie „Es ist genug“, in der er verzweifelten Lebensüberdruss erschütternd zum Ausdruck bringt.

Gut besetzt sind auch die beiden weiblichen Partien. Die Sopranistin Bernarda Bobro als heller Engel und Witwe strömt starke Gefühle aus, mit dem eindringlich vorgetragenen „Höre, Israel, höre des Herrn Stimme!“ eröffnet sie, traumschön begleitet von Cornelia Burghardt am Solocello, den 2. Teil. Dramatisch stark und berührend ist auch ihr Flehen für ihr totes Kind. Eine Sängerin, die nicht ohne Grund schon zum Stammpersonal beim Festival Retz zählt, bei dem sie heuer zum siebten Mal aufritt.

Zum vierten Mal dabei ist die Altistin Monika Schwabegger. In der Doppelrolle als „Der dunkle Engel und Königin“ gestaltet sie ihre Partie mit fülliger, mit farbenreichem Timbre ausgestatteter Stimme sowie mit imposanter Bühnenpräsenz. Wahrlich himmlische und königliche Auftritte, zu Recht mit starkem Szenenapplaus bedacht.-

Der vielgefragte Oratorienspezialist Daniel Johannsen, einer der besten Evangelisten der Gegenwart, ist ein fein nuancierender Obadjah, der als geistlicher Führer – ausgestattet mit einem weißen, ringförmigen Stehkragen (Kostüme Inge Stolterfoht) – ein Kollege, Berater und Gegenspieler von Elias ist. Der österreichische Tenor tritt aber auch als Ahab souverän in Erscheinung.

Philipp Gruber Hirschbrich ist bei der Premiere ein zunächst sehr leise singender Knabe, findet aber bald die nötige Sicherheit und kann mit seinem Gesang durchaus berühren.

Großartig ist die Leistung der beiden stimmstarken Chöre, von denen der szenische Chor von Anfang an – als Volk der Juden sowie als Anhänger Baals – fest in die Handlung eingebunden ist. Der Kommentarchor meldet sich aus dem Off zu Wort, ist zuweilen aber auch hinter der Rückwand der Bühne positioniert, die aus eng gesetzten Gummiseilen besteht, die sich verbiegen und damit öffnen lassen, so dass die Chormitglieder aus den sich so ergebenden Spalten singen können.

Die handelnden Personen können dieses Geflecht aber auch durchschreiten: Im Bühnenbild von Alexander Löffler gibt es keinen sicheren Ort. Alles ist einsehbar. Kontrolle und Willkür jederzeit möglich.

Chorleiter Thomas Böttcher kann auf die subtile, ausgefeilte Gestaltung des Doppelquartetts „Denn er hat seinen Engeln befohlen“ wie auch des Engelsterzetts „Hebe deine Augen auf“, mit dem die Aufführung begann, stolz sein. Das war himmlisch.

Die musikalische Leitung hat Andreas Schüller inne, der diese Funktion schon seit der Gründung des Festivals 2005 innehat und ein Garant für hohe künstlerische Qualität ist. Mit dem Orchester Festival Retz hat er ein bestens eingespieltes Ensemble zur Hand, mit dem er die für Kammerorchester bearbeitete Fassung wunderbar zum Klingen bringt.

Viel Applaus und viele begeisterte Bravorufe sind der Dank für einen musikalisch sehr gelungenen Abend. Die Deutung und Neubewertung der Person und des Wirkens des Propheten Elias in dieser Inszenierung des Oratoriums mag noch einige Zeit brauchen, um in ihrer Tragweite voll anerkannt zu werden. Dies mag durchaus auch zu Irritation und Entrüstung führen, was nichts daran ändert, dass hier wohlüberlegt und durchaus gut begründet gearbeitet wird.

Tatsache ist, dass diese Inszenierung die eher eindimensionale von Calixto Bieito 2019 im Theater an der Wien bei weitem übertrifft. Also: Auf nach Retz!



Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

Schreibe einen Kommentar