Literarische Korrespondenz:
Walter Plasil
Betrifft:
Zu Ronald Weinbergers Sicht auf 1968

Lieber Ronald Weinberger!

Zu deinem Beitrag „Gefangene raus, Bullen rein! Erinnerungen an den 18.10.1977“ habe ich einiges anzumerken.

In deinem Rückblick spannst du einen Bogen von 1968 bis 1977. Ich versuche, mich an diese Zeit zu erinnern. Dabei beginne ich mit meinen Bemerkungen in den 1960-er Jahren.

Damals lebte ich ebenfalls in Wien. Die Ideen der in Amerika neu entstandenen Bürgerrechtsbewegungen waren in dieser Zeit auch in Europa bekannt geworden. Von studentischer Seite wurden sie mit Begeisterung aufgenommen. Offenbar war auch bei uns die Zeit dafür gekommen. Staat und Bürger hatten sich weitgehend auseinandergelebt. Und schnell wurden die ursprünglichen Absichten von Mitbestimmung an der Basis mit Kritik an den negativen Auswüchsen des Kapitalismus angereichert, da man hier ursächliche Zusammenhänge empfand.

Im Blick zurück, ein paar Schlaglichter: Damals herrschte noch „Kalter Krieg“ zwischen den Supermächten, und der Vietnamkrieg sorgte weltweit für zunehmenden Protest bei friedensbewegten jungen Menschen. Die Jugend wollte keine Kriege, sondern weltweiten Frieden. Ein Umdenken wurde eingefordert. Die Werteskala des gesellschaftlichen Lebens sollte neu gefasst werden, das Duckmäusertum abgelegt, Gleichberechtigung und Mitbestimmung der Basis auf allen Ebenen, auch an den Universitäten, wurde verlangt.

Aus diesem Mix und der Erkenntnis, dass die plötzlich politisierte Jugend aus den gehobenen Bildungsschichten nicht mehr „weiter so“, nicht mehr auf diesen antiquierten Pfaden des Konservatismus einherschreiten wollte, bildete sich (zur Überraschung vieler) auch in Österreich so etwas wie eine „Neue Linke“. Die „Alte Rechte“, das waren ja die aktuellen Machthaber, die Eliten, denen jeder Veränderungsimpetus fehlte.

Zur Erinnerung: An der Wiener Uni lehrte damals immer noch der bekennende Antisemit und Nazi Taras Borodajkewycz. Die „schlagenden Studenten“ waren stark vertreten und stützten das „Weiter so“, anstatt zu versuchen, den „Tausendjährigen Muff unter den Talaren“ zu durchlüften. Der erste, aus politischen Motiven ermordete Österreicher nach dem Kriegsende, Ernst Kirchweger, kam durch die Gewalttat eines rechtsextremen Studenten anlässlich einer Demo gegen Borodajkewycz in Wien ums Leben. Das rüttelte auf.

Die Aufarbeitung der NS-Zeit steckte noch in den Kinderschuhen. Alles in der aufgewachten Jugend drängte nach Veränderung und Fortschritt. Der Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung, einer gerechteren, die durch den Zeitgeist geprägt und auch von ideologischen Diskussionen beherrscht war, stand auf der Agenda.

Man wollte den überbordenden, auch von christlichen Kreisen gestützten Konservatismus hinter sich lassen, aus den kapitalistischen Zwängen ausbrechen, sexuelle und individuelle Befreiung erreichen und alles neu und besser gestalten. Liberalismus anstatt Konformismus. Freie Liebe statt Krieg und Totschlag. Mitbestimmung statt Fremdbestimmung.

Ulrike Meinhof, damals eine ausgezeichnete Journalistin, schrieb in der Zeitschrift „Konkret“ pazifistische und antifaschistische Artikel. Die hochangesehenen Professoren Horkheimer, Adorno und Herbert Marcuse lieferten Aufsätze und Bücher (Marcuse: Der eindimensionale Mensch), die zur Diskussion im intellektuellen Umfeld beitrugen. Aus der kritischen Studentenschaft traten „Studentenführer“ wie Rudi Dutschke in Deutschland und in Frankreich Daniel Cohn-Bendit (bis 2014 EU-Abgeordneter der Grünen) als Sprachrohre hervor. Die APO, die „außerparlamentarische Opposition“, wurde gegründet.

Diese wenigen Worte sollen aufzeigen, dass die „Neue Linke“ und die „68-er“ keine Ansammlung von Rüpeln waren, sondern ambitionierte, junge Aktivisten und gar nicht dumme Studenten, die sich sehr darum bemühten, ihre Ansichten zu formulieren und auch gut zu begründen.

Dann aber waren doch noch einige dabei, ich meine, es waren Minderheiten, die allein Provokation, Ausreizung und Überschreitung der staatlichen Vorschriften, und, nebenbei bemerkt, auch unter grober Verletzung des guten Geschmacks, oft das Bild nach außen prägten.

Wo ich dann nicht mehr richtig mitkonnte, war das Ausprobieren neuer Lebensformen in den Kommunen. Sollen sie machen dürfen, aber ist nichts für mich, war meine Einstellung dazu. Aber längere Haare gehörten schon dazu. Und die Gleichberechtigung der Geschlechter oder gar das Gendern waren vielleicht da und dort in revolutionären Papieren zu finden, das Licht der realen Bedeutung blieb diesem Ansinnen aber verwehrt. Das Fehlen von Bitte und Danke habe ich selbst übrigens nicht erlebt.

Ganz wichtig für mich ist es zu erwähnen, dass die große Masse der Parteimitglieder der SPÖ, die proletarische Basis, vor allem aber der gewerkschaftliche Flügel, bei dieser 68er-Welle nicht mit dabei war. Diese Menschen beobachteten die Situation skeptisch von außen, fanden vielleicht das eine oder andere ganz gut, das meiste davon aber schlecht und waren sicher keine Freunde der „Neuen Linken“.

Als sich dann politische Grüppchen bildeten, wie etwa die Maoisten, Leninisten, Trotzkisten, Anarcho- und Krypto-Kommunisten, zersplitterte die anfangs noch vorhandene Verbundenheit der jungen Aktivisten. Politische Grabenkämpfe an den extremen Rändern der Linken waren die Folge.

Das alles fand ohne physische Gewalt, aber nicht ohne „Nebengeräusche“ statt. Einige wenige der Aktivisten verhielten sich so, wie du, lieber Ronald es beschreibst und erlebt hast. Deine Ablehnung gegenüber diesen übergriffigen Verhaltensweisen, zum Beispiel an den Universitäten, verstehe ich voll und kann nachvollziehen, dass sie dir in schlechter Erinnerung blieben.

Für mich war und ist immer die Prämisse gültig, für meine (humanistischen) Ansichten zu werben, und das natürlich gewaltfrei. Ich mag keine persönlichen Verunglimpfungen Andersdenkender, solange sie sich im demokratischen Gefüge bewegen. Gegen Links- oder Rechtsradikale, Faschisten, Antisemiten und noch Schlimmere werde ich zwar nicht gewalttätig, aber versuche dazu beizutragen, dass sie von staatlicher Seite den Gesetzen entsprechend beobachtet und bei Vergehen bestraft werden.

In der Statistik ist nachzulesen, dass es in Österreich etwa 200 linksextreme und 800 rechtsextreme unterschiedliche Straftaten pro Jahr gibt (Stand 2019). Bei der Zahl der zu Tode gekommenen, wenn man das überhaupt als statistische Größe bewerten darf, habe ich nur die Zahl von Deutschland gefunden.
Seit 1990: Tote durch Linksradikalismus: 3
Seit 1990: Tote durch Rechtsextremismus: 849.

Linksradikale gibt’s also heutzutage wenige. Freilich damals, nun komme ich zur RAF, war das anders. Dennoch waren es auch nur eine Handvoll Menschen, deren Namen alle kannten, darunter die vorzitierte Ulrike Meinhof, die sich in kriminelle Radikalität verrannt hatten und schwerste Verbrechen begangen haben. Das waren dann natürlich längst keine „Neuen Linken“ mehr, sondern Terroristen, die gemordet und den demokratischen Staat in Angst und Schrecken versetzt haben.

Jetzt komme ich zum Punkt, warum ich das alles schreibe.

Aus deinen Schilderungen, lieber Ronald, lese ich heraus, ob gewollt oder ungewollt, dass du aus deinen Erlebnissen von damals bestimmte Schlüsse auf die aktuelle Lage ziehst. Du gehst dabei davon aus, dass die Ereignisse der „68-er Zeit“ per se schlecht waren und letzten Endes auch schuld am Terror der RAF sind. Diesen Schluss halte ich für unzulässig.

Die „Linken“ sind nicht verantwortlich für „gewaltbereite Linksradikale“. Wäre das so, dann müssten auch die „Rechten“ für die kriminellen Taten der aktuell mehr und mehr auftretenden „Rechtsradikalen“ verantwortlich sein, von denen wir nahezu täglich in der Zeitung lesen.

Also wenn es heutzutage etwas politisch zu bekämpfen gibt, dann ist es neben dem Islamismus und dem Antisemitismus hauptsächlich der Rechtsextremismus. Das heißt natürlich nicht, dass man deswegen Linksextremismus gutheißt.
Dummheit bleibt Dummheit, egal ob sich jemand als „rechts“ oder „links“ einordnet.

Und Dummheit wäre es auch gewesen, wenn die Generation der damaligen „68-er“ in den Jahren danach nichts dazugelernt hätte. Das gilt für Joschka Fischer genauso wie für die anderen und letzten Endes auch für mich. Umdenken aufgrund des Nachdenkens ist keine Schande, sondern Ausfluss eines erwünschten Prozesses, an dessen Ende sich die dadurch gesteigerte eigene Weisheit durchgesetzt hat.

Von manchen „68-ern“ wird die Zeit wohl wirklich romantisiert. Ich meine, das erfolgt vor allem deswegen, weil es die Jugendzeit war. Weil manche halt damals, wenn man irgendwie dabei war, ein Heldenepos schaffen möchten, und man Negatives auch sonst gerne verdrängt.

Bei mir ist aus dieser Zeit übergeblieben, dass ich sehr empfindlich geblieben bin gegenüber Ansichten, die etwas Menschenverachtendes intendieren, die auch nur im Entferntesten mit Gewalt gegen Sachen und Personen zu tun haben, die unsozial, ungerecht und schlecht bis gar nicht begründet sind.

Ich denke, da treffen wir uns. Ob und inwieweit heutzutage die von dir als „Links-Grüne“ bezeichneten Druck ausüben, um zu erreichen, dass man zum Beispiel sprachliche Anordnungen zu befolgen hat, bestimme Wörter nicht mehr verwenden darf, als Anzeichen einer sich anbahnenden Zeit einer neuen Art von „68er – Bedrohung“ werten kann, bezweifle ich.

Ich stimme dir aber zu, wenn du ausdrückst, diesen sprachlichen Anforderungen, alles zu „gendern“ und dem Verbot von bestimmten Wörtern die kalte Schulter zu zeigen. Das halte ich auch so ähnlich. Aber bedroht fühle ich mich dadurch nicht.

Da, wo’s leicht geht und für mich Sinn macht, da übernehme ich’s. Ich sage Sinti oder Roma, anstatt Zigeuner, wenn selbige das wünschen, Inuit anstatt Eskimo, Schwarze statt Neger, (aber nicht „Menschen mit dunkel pigmentierter Haut“). Bei Ärztin, Doktorin und Magistra, da gehts ja leicht.

Aber den Titel Landeshauptmann sollte man dringend ändern, weil sowohl Frau Landeshauptmann wie auch Frau Landeshauptfrau sprachlichen Schwachsinn verbreiten (wer wäre dann die Landes-Nebenfrau?). Ich verwende auch die angebotenen Schreibformen wie etwa bei Lehrer*innen, Lehrer:innen, Lehrer_innen nicht und kann mich beim Sprechen auch nicht für den Gender-Gap begeistern.

PS: Darf man Bauernspeck sagen? Nein, natürlich nicht. Geht doch viel besser so: Wir sprechen hier von: Von Landwirt_innen aus Schweine- nein – rosafarbenen, grunzenden Nutztieren nach deren unfreiwilligem Ableben entnommenen Haut- Fleisch- und Knochenteilen in zurechtgeschnittenen Stücken, die in Selchvorgängen aufbereitet wurden und als Speck bezeichnet werden.

Also wieder ernsthaft: Mit Gender und neuer Namensgebung ist (noch) kein gesellschaftlicher Umbruch im Anmarsch. Eher könnte man von einem fragwürdigen Wandel in der deutschen Sprache, aber nicht von mehr sprechen. Es soll uns nie Schlimmeres bedrohen!

Zum Abschluss nochmal eine Reminiszenz: Was ist geblieben von den „68-er Jahren“?

In Deutschland und Österreich wurden Anfang der 70-er die konservativen Regierungen abgewählt. Willi Brandt und Helmut Schmidt siegten bei den Nachbarn, bei uns kam Bruno Kreisky. Das Feld dafür wurde nach meiner Ansicht in den Jahren davor bereitet. Jahre mit einer Reihe von Reformen und Schritten der Modernisierung folgten.

Es setzte sich bis heute die Erkenntnis durch, dass sich die Zivilgesellschaft selbst organisieren kann, dass sich Bürgerinitiativen aus der Bevölkerung bilden, die Parlamente unter Druck setzen können, dass basisdemokratische Entscheidungen gefällt werden können, dass direkte Demokratie möglich ist, kritischer Umgang mit Autoritäten stattfindet und nicht zuletzt neben der Hochkultur auch Gegenkultur einen fixen Platz in der Gesellschaft hat.

Durch Zwentendorf und Hainburg bekamen die Grünen die Startbedingungen für ihre Parteigründung.

Die Bewertung der damals auch entstandenen Bewegung für antiautoritäre Erziehung überlasse ich anderen. Ebenso alle weitere Schlüsse über die Geschichte dieser interessanten Epoche, die man ziehen, oder es einfach dabei belassen könnte.

Optimistische Grüße von Walter Plasil

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Walter Plasil

Walter Plasil, Jahrgang 1946, geboren in München, aufgewachsen in Wien, seit 1971 in Innsbruck. Führte viele Jahre das INGENIEURBÜRO WALTER PLASIL für Technische Gebäudeausrüstung und Energieplanung und war als Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger tätig. Walter Plasil: „Ich war immer ein Vielschreiber und habe nun, nachdem meine bisherige Tätigkeit dem Ende zugeht, Zeit und Lust dazu, auch zu veröffentlichen. Mein neuer Beruf daher: „Literat.“

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