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Walter Plasil
Tradition
Kleine Streitschrift

Anlässlich einer Diskussion im Freundeskreis wurden Meinungen über Sinn und Unsinn, über Wert und Unwert von Tradition ausgetauscht. Unter beispielhafter Bezugnahme auf das Erscheinungsbild einer der Formen des traditionellen Tirolertums sticht dabei der sogenannte Landesübliche Empfang hervor. Er wird zu bestimmten Anlässen ausgesuchten Gästen gewährt.

Zuletzt fand ein solcher in Kitzbühel statt, wie ich der Tiroler Tageszeitung entnommen habe.

Auf mich wirkt das Spektakel wie eine drehbuchgeführte Groteske, die Trugbilder aus der Schnabelschuhzeit erzeugen möchte. So etwas beschrieb auch früher nie die landestypische Tiroler Eigenidentität der Mehrheit der hier lebenden Menschen.

Aber in der heutigen Zeit eine paramilitärische Truppe aufmarschieren zu lassen, die eine krachende Gewehrsalve in die Luft schießt, und meint, damit ausgedrückt zu haben, dass es uns sehr freut, einen oder mehrere Gäste zu begrüßen, ist schlichtweg skurril.

Das Einzige, was Gäste daran freuen wird, ist die halbwegs gesicherte Annahme, dass nicht auf sie geschossen wird. Das Schnapsl danach muss dann wirklich sein. Es mindert den erlittenen Schreck über die kriegerische Attacke, indem es das Bewusstsein der Beschwipsten umwölkt. Dadurch wird sichergestellt, dass sich die Gäste nicht ernsthaft über die Szenerie Gedanken machen können.

Wenn – von welcher Tradition auch immer – nur mehr die theatermäßige Aufführung des Tradierten stattfindet, demonstriert sie automatisch ihre Unzeitgemäßheit. Permanentes Wiederholen des immer gleichen ist Zeitverschwendung und einfach nur Retro.

Diese Art von Traditionspflege ist heutzutage in Wahrheit nichts anders als gelebte Folklore. Es wird zum überkommenen Brauchtum und duftet nach Moder. Es wirkt wie der zwangsläufig erfolglose Versuch, Tote zum Leben zu erwecken. Und warum dann so etwas als landestypisch angesehen wird, verbirgt sich in den Gehirnwindungen der Akteure.

Schon oft befassten sich Kommentare damit. Die Ansichten darüber schwanken wohl zwischen Lächerlichmachung und halbherziger Verteidigung.

Dieses, in Tirol sehr beliebte Beispiel des Landestypischen Empfangs, an dem man sich immer wieder (nahezu schon traditionell!) abarbeiten kann, führt zu Grundsätzlicherem. Und um das geht es mir hier eigentlich.

Tradition ist etwas Vorübergehendes. Sie muss permanent ihre Berechtigung verteidigen. Sie muss historisch ehrlich, sie muss für Menschen in der Jetztzeit positiv wirksam sein, und sie darf nicht an ihr selbst kleben bleiben. Sie muss frei von unkritischer Verherrlichung der Vergangenheit sein. Die gute alte Zeit war nämlich keine solche.

Alles, was Tradition heißt, war zuvor keine. Alles, was traditionell war, aber den Bezug zum Heute verloren hat, ist keine Tradition mehr. Traditionen kommen und gehen. Für jede Tradition kommt irgendwann die Zeit zu gehen.

Traditionen zu verlassen, ist ein Zeichen des Fortschritts. Früher mag es wohl Tradition gewesen sein, auf den Bäumen zu sitzen. Davon ist man heutzutage aus guten Gründen abgekommen.

Die Menschen wurden immer schwerer, die Äste brachen, es gab noch keine Unfallkliniken. Das sind natürlich nur einige, wenn auch gewichtige Gründe von vielen anderen, die dazu führten, dass solche und ähnliche Traditionen ausgestorben sind. Sie entbehrten der Förderlichkeit für das menschliche Dasein.

Tradition trägt eben, wie so vieles im Lauf des Lebens, den Kern des Endlichen in sich. So wie das Leben traditionell mit dem letzten Hauch entschwindet, verduftet auch Tradition allmählich im Nebel der Geschichte.

Tradition lässt sich nicht festhalten. Das heißt jetzt überhaupt nicht, dass man Traditionen deswegen auch aus der Erinnerung streichen soll. Aber das Gewesene, das Verblichene, immer wieder künstlich beleben zu wollen, raubt zu viel an Lebenszeit, die man anders und vernünftiger nutzen könnte.

Das gilt bis zu einem gewissen Grad natürlich auch für die zahlreichen Schauläufe von eigentümlich kostümierten Figuren, die in den kleinen Orten stattfinden. Ich setze voraus, dass wohl niemand mehr meint, dass damit etwa der Winter vertrieben werden kann. Aber auch die Auftritte von Teufeln und Hexen, von beschellten, bespiegelten Hüpfern, die Ausgrabung von im Vorjahr Eingegrabenen, die etwas verhindern oder ermöglichen sollen, ist längst Folklore für die Zuschauergaudi geworden.

Unreflektierte Begründungsversuche für dieses seltsame Treiben, wie etwa – das haben wir immer so gemacht, das ist Tradition – greifen ins Leere.

An solchen und ähnlichen Traditionen festzuhalten, sehen manche als eine Art von historischem Auftrag, um sich damit beschäftigen zu müssen. Sie opfern viel an Zeit, um sich in entsprechenden Vereinen damit zu befassen. Traditionen werden dort (wie Kranke) gepflegt. Und es wird versucht, sie künstlich am Leben zu erhalten, indem man sich verpflichtet, sie hochzuhalten, weil sie sonst in sich zusammenfallen würden.

Dass aus Traditionspflege alleine tragfähiges kritisches Geschichtsbewusstsein entsteht, ist unwahrscheinlich. Auch der Gedanke, es läge darin ein gewisser Automatismus, der bildungspositiv wirke, ist ein Trugschluss.

Ein Zuviel an Tradition im menschlichen Alltag führt zu Verfettung im Geiste. Tradition im Lebensalltag beinhaltet einen sehr kleinen Anteil an Gewinn (wenn überhaupt). Der Effekt von Tradition zeigt sich in Form von Fortschrittsverhinderung und Zeitvergeudung. Der Moderne wird der Weg erschwert.

Natürlich können wir heute nur so modern leben, weil wir auf den Errungenschaften unserer Vorgänger aufbauen durften. Und die Ereignisse der Geschichte sind es wert, sie in Erinnerung zu behalten. Historische Geschehnisse helfen uns, mittels wissenschaftlich gestützter Gedenkkultur, daraus zu lernen. Tradition und Gewehre brauchten wir zu all dem nicht.

Also bleiben Fragen:

Was ist heutzutage landestypisch für Tirol?
Tradition, was ist dein Wert?
Ist Tradition womöglich ein Neutrum?
Gibt’s gute und böse Arten davon?
Und: Gibt’s Meinungen dazu?

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Walter Plasil

Walter Plasil, Jahrgang 1946, geboren in München, aufgewachsen in Wien, seit 1971 in Innsbruck. Führte viele Jahre das INGENIEURBÜRO WALTER PLASIL für Technische Gebäudeausrüstung und Energieplanung und war als Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger tätig. Walter Plasil: „Ich war immer ein Vielschreiber und habe nun, nachdem meine bisherige Tätigkeit dem Ende zugeht, Zeit und Lust dazu, auch zu veröffentlichen. Mein neuer Beruf daher: „Literat.“

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Albert Schwarzmann

    Sehr geehrter Herr Plasil, ich möchte Ihren geschätzten Artikel um folgende Erfahrung ergänzen: Ich bin seit mehr als vierzig Jahren in Blasmusikkapellen aktiv und hatte bis Anfang der 2000er Jahre mit dem Begriff des „Landesüblichen Empfangs“ im zivilen Blasmusikwesen so gut wie keine Erfahrung und Wahrnehmung.
    Wenn die Blasmusik zum Empfang eines Ehrengastes ausrückte, wurde ein normaler Straßenmarsch gespielt. Der beim Abschreiten der Kompanie gespielte „Präsentiermarsch“ ist eine Schöpfung von Militärkapellmeistern der 2. Republik, vermutlich aus den 1970er Jahren für die österreichischen Militärmusiken und war für zivile Blasmusiken lange gar nicht erhältlich.
    Vor allem Günther Platter als Landeshauptmann und Präsident des Tiroler Blasmusikverbandes hat die Verbreitung dieser Veranstaltung massiv gefördert und geradezu inflationär gemacht. Die Noten des Präsentiermarsches wurden den Musikkapellen nunmehr geradezu angetragen, und es wurde kommuniziert, dass eine gute alte Tradition quasi wieder aufgefrischt wurde, was zumindest für die zivilen Blasmusiken nicht der historischen Wahrheit entsprach.
    Meine Conclusio: Wenn Sie in Tirol etwas einführen möchten und möglichst vermeiden wollen, dass es in seiner Sinnhaftigkeit hinterfragt wird, erklären Sie es zu einer alten Tradition, die es wieder zu beleben gilt. Tradition als Begründung ist hierzulande häufig ein hinreichendes Argument, das weiteres Nachfragen verhindert oder quasi ächtet.

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