Literarische Korrespondenz:
Alois Schöpf an Walter Plasil
Betrifft:
Der Journalist Karl Marx
und die Arbeiter in der Fabrik

Hallo Walter!

Herzlichen Dank für deine kritischen Bemerkungen zu meinem Artikel „Wider das Axiom vom gierigen Menschen“. Leider hast du dich in keinster Weise auch nur mit einem einzigen Argument meines Aufsatzes beschäftigt. Vielmehr hast du mir gleich zu Beginn Behauptungen unterstellt, die ich in dieser Weise nie gemacht habe.

Es ist geradezu die Kernbotschaft meines Textes, dass ich zwischen jenen, die als meist ziemlich verschnöselte Absolventen der Volkswirtschaft bzw. Betriebswirtschaft und später als Berater in die Betriebe ausschwärmen, um dort mit der These vom nutzenmaximierenden Menschen Absolutionen für unternehmerische Gier zu verteilen, und jenen unterscheide, die als gealterte Post-68-er Revolutionäre bzw. Mitläufer samt nicht enden wollender Grün-Jüngerschaft geradezu glücklich über die Thesen ihrer Kollegen aus der Wirtschaft sind, da sie sich damit die Mühe ersparen, ihrem Uralt-Marxismus abzuschwören und sich auf die Realitäten der modernen Welt einzulassen.

Die Argumente, welche ich vorbringe, entstammen auch nicht meiner eigenen Denkwerkstatt, sondern sind die Überlegungen des Nobelpreisträgers, Wirtschaftswissenschaftlers und Ethikers Amartya Sen. Im Gegensatz zu dir fühle ich mich nämlich nicht kompetent genug, ohne Beistand eines solchen großen Geistes über die Wirtschaft etwas auszusagen. Es wäre immerhin erfreulich gewesen, wenn du dir die ca. 50 Seiten seines knappen Essays, aus dem ich zitiere, zu Gemüte geführt hättest.

Zwei Sätze aus deinem Aufsatz möchte ich jedoch nicht unkommentiert lassen, da sie mir zum einen Ignoranz und zum anderen Verblendung bei der Beurteilung wirtschaftlichen Handelns unterstellen.

Du schreibst:

„Marx war ein vielseitiger, epochaler Denker seiner Zeit, dessen Reputation von der globalen Geisteswissenschaft bis heute nicht bezweifelt wird.
Es macht daher keinen schlanken Fuß, wenn man ihm posthum all jenes unterschiebt, was die ihm nachgefolgten Kommunisten an Unheil angerichtet haben. Die meisten Kritiker begnügen sich damit, nur den Namen Marx anzuführen, um damit schon eine diffuse Abneigungsreaktion erzeugen zu können. Weil eben von unbedarften Menschen (die auch nie eine Zeile von ihm oder über ihn gelesen haben) Marx als Synonym für die Gräueln der Zeit in der Sowjetunion oder Anderswo untrennbar verbunden werden soll.“

Meine Abneigung gegen Karl Marx, der, wenn es zumindest nach der Standardbiografie von Jonathan Sperber „Karl Marx, Sein Leben und sein Jahrhundert“ geht, niemals ein Sozial- oder Wirtschaftswissenschaftler, sondern immer nur ein Journalist war, weshalb er denn auch nur in den Geisteswissenschaften hohe Reputation genießt, resultiert nicht aus diffusen Gefühlen meinerseits, sondern aus ganz konkreten Zitaten, wie zum Beispiel aus dem „Kommunistischen Manifest“:

„Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, das heißt des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.
Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar scheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind.
Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden sein. Für die fortgeschrittenen Länder werden jedoch die folgenden ziemlich allgemeinen in Anwendung kommen können:
1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben.
2. starke progressive Steuer.
3. Abschaffung des Erbrechts.
4. Konfiskation des Eigentums aller Immigranten und Rebellen.
5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.
6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staates.
7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.
8. gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.
9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land…“

Noch mehr totalitärer Unsinn gefällig? Genügt als Anschauungsmaterial der real existierende Sozialismus, der diese Thesen getreulich verwirklicht hat, mit seinen über 100 Millionen ermordeten „Immigranten und Rebellen“, wie er von der Sowjetunion bis Kambodscha gelebt wurde und in China und Kuba noch heute gelebt wird, noch immer nicht, um den Autor des oben zitierten Textes und Urvater des Traums vom Arbeiterparadies als eine abseitige, nicht zitierfähige Monstrosität schleunigst in Vergessenheit geraten zu lassen?

Du schreibst weiter:

„Die Firma, die besteht nahezu ausschließlich aus den in ihr arbeitenden Menschen. Der Rest davon ist nur Papier, sind leere Hallen oder verwaiste Büros und vor sich hin rostende Betriebsmittel. Was genau hat sich da seit Marx geändert?“

Dass Produkte nur entstehen können, wenn es Arbeiter und Angestellte gibt, die entweder selbst Hand anlegen oder Maschinen bedienen, ist eine Trivialität. Die Bedingungen jedoch, die diese Arbeiter und Angestellten vorfinden, sind das Entscheidende. Denn zweifelsfrei arbeitet eine afrikanische Frau, die über 1 Stunde zur Wasserstelle hin und schwer beladen über 1 Stunde wieder zurückgehen muss, um das Verdursten ihrer Familie zu verhindern, in einem Ausmaß unter schwierigeren Bedingungen, wie es sich heute fast niemand mehr in Europa vorstellen kann. Trotz ihrer unsäglichen Mühen ist jedoch das Ergebnis ihres Fleißes äußerst bescheiden. Dies gilt ebenso für Bergleute etwa in einer Kohlengrube Polens zur Zeit des bereits zitierten real existierenden Sozialismus: Sie mussten zweifelsfrei wesentlich mehr schuften als ihre Kollegen im Westen, wodurch sich die Frage erhebt, worin eigentlich der Unterschied zwischen den beiden Welten bestand.

Du solltest Papier und verwaiste Büros nicht unterschätzen. Arbeitsaufwand und Arbeitskomfort resultieren fast ausschließlich aus den Ideen und Innovationen jener, die durch ihren Einfallsreichtum nicht nur das Rad, den eisernen Pflug oder den Wechselstrom, sondern auch den Computer und ein von dir, lieber Walter, besonders beneidetes Vertriebssystem, jenes von Amazon, erfunden und selbst oder in Zusammenarbeit mit Unternehmern der Menscheit zur Verfügung gestellt haben.

Technologische, aber auch gesellschaftspolitische Innovationen waren es, die es uns allen ermöglicht haben, ein besseres Leben zu führen, indem durch steigende Produktivität nicht nur den gierigen Unternehmern mehr Gewinne blieben, sondern auch Arbeitern und Angestellten die Chance eröffnet wurde, unter Mithilfe von Gewerkschaften ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Urlaubszeiten auszuweiten, die Tagesarbeitszeiten zu reduzieren und darüber hinaus am allgemeinen gesellschaftlichen, vom sogenannten Kapitalismus induzierten Wohlstand teilzunehmen, ein Prozess, wie ihn unsere Nachkriegsgeschichte, unsere europäische Geschichte, die Geschichte der EU eindrücklich gezeigt hat.

Eine Zeit, in der alles Geistige, von der Sinfonie über den Roman bis zum Film, aus dem Internet gratis heruntergeladen werden kann, verführt allerdings zum Missverständnis, dass Ideen, Kreativität, das neu Erdachte, das neu Ausgeklügelte nichts wert seien, nur Papier eben.

Das Gegenteil ist wahr: In den Papieren voll von Konstruktionszeichnungen oder Formeln konzentrieren sich die höchsten Werte, die auch bei der Beurteilung des unternehmerischen Handelns und der ethischen Einstellung von Unternehmern die Basis bilden sollten.

Ist ein Management lediglich darauf aus, aus dem Alten und immer Gleichen durch Rationalisierungen und zweifelsfrei oft gegebene Ausbeutung noch das letzte heraus zu pressen, oder ist es befähigt, durch neue Ideen auch den sogenannten Arbeitern, aus denen angeblich die Fabrik besteht, nicht nur eine gedeihliche Gegenwart, sondern eine noch bessere Zukunft zu garantieren?

Eine schlichte Fahrt vorbei am Fabriksgelände von Sandoz Kundl könnte dich diesbezüglich nachdenklich stimmen. Ebenso wenn du das nächste Mal ein Päckchen von Amazon öffnest oder, was du wahrscheinlich nicht tust, bei Facebook nachschaust, was deine Freunde am Wochenende unternommen haben.

Ganz abgesehen davon, dass es den vorliegenden Blog, auf dem wir Argumente austauschen können, ohne die derzeitigen von dir scheel angesehenen Digital-Milliardäre nicht geben würde.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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