Helmuth Schönauer
Maßlos überschätzt
Weihnachten und Sex
Stichpunkt

Der Volksmund wiehert um den Jahreswechsel herum immer laut auf und klopft sich auf die Schenkel, wenn er pünktlich wie das Geschäft den Vergleich zwischen Sex und Weihnachten zieht. Und tatsächlich sind die beiden Themen ein großer Smalltalk in einer Gesellschaft, in der sich das Individuum durchschlängeln muss.

Gefragt ist in beiden Fällen nicht die persönliche Erfahrung, sondern der große Flow, den Sex und Weihnachten zu bestimmten Jahreszeiten auslösen müssen. Alles fiebert den beiden vermeintlichen Höhepunkten entgegen, und außer bei den Psychologinnen, die im Notfallmodus agieren, ist in Wirklichkeit eher tote Hose im emotionalen Wartezimmer.

Wie sehr Sex und Weihnachten verstrickt sind, zeigen Fügungen und Begriffe, die scheinbar harmlos in die Diskussion geworfen werden: Einen Baum aufstellen – Christbaumständer – Sternspritzer – macht hoch die Tür! Alle diese Begriffe bewähren sich sowohl im einen wie im anderen Universum.

Den allgemeinen Diskurs kann das Individuum nicht steuern, aber zumindest für jene Abgründe, die dahinter verborgen sind, gibt es einen Ausweg, indem man das Getue für sich ganz persönlich beschreibt. Denn wenn man Fallen durch Eigenbeobachtung kennengelernt hat, kann man ihnen leichter aus dem Weg gehen.

Als spezieller Service werden an dieser Stelle acht Fallen bzw. Abgründe aufgelistet, in die Sex- und Weihnachts-User tappen können. Mit Weisheit recherchiert und zusammengefasst ergibt sich ein brauchbares Vademecum.

1. Herdentrieb
In einer Gesellschaft, in der der sogenannte Mainstream das non plus ultra ist, ist alles zu vermeiden, was diesen Mainstream verlässt. Wenn alle vorgeben, dass es jetzt Zeit für Weihnachten und/oder Sex (SUW) ist, sollte man sich nicht dagegen sperren, überlebt doch schließlich nur jenes Individuum, das sich perfekt tarnt und alles Individuelle aufgibt.

2. Mit falschen Leuten
Einmal im SUW-Geschäft drin, überlegt man nicht lange, ob man es eigentlich mit den richtigen Partnern zu tun hat. Sowohl zu Weihnachten als auch beim Sex stellt sich oft Enttäuschung ein, wenn klar wird, dass einem die Betreffenden gar nicht so viel bedeuten, wie sie sollten.

3. Nicht altersgemäß
Auch wenn die Gesellschaft in immer jüngeren Jahren aufgeklärt wird, schleichen sich doch Rituale ein, die nicht altersgemäß sind. Beim Sex fallen die beteiligten Personen oft in eine Kindersprache zurück, ehe sie die passenden Handgriffe dazu ausführen, zu Weihnachten werden oft Lieder hervorgekramt, die sehr infantil wirken. Wer nicht aufpasst, gerät leicht in die Falle nicht altersgemäßer Erregung. Im Zweifelsfalle sollten bei SUW also Triggerwarnungen ausgestoßen werden.

4. Zu hastig
In einer Zeit, wo alles auf Speed und Rekorde gebürstet ist, werden oft die primitivsten Handgriffe zu hastig ausgeführt. Es wird zu hastig gegessen, zu hastig in den vierten Gang geschaltet, zu hastig verdaut und zu hastig geschissen. So ist es kein Wunder, dass die meisten auch bei SUW zu schnell unterwegs sind, was sich letztlich auf die Lebensqualität auswirkt, die sich von Natur aus jedem Speed widersetzt.

6. Am falschen Ort
Obwohl wir durch GPS immer wissen, wo wir uns befinden, leitet uns das Navi oft auf falsche Pfade, sodass wir vom Display aufschauen und sehen, dass wir am falschen Ort sind. Gerade bei SUW starren wir zwischendurch zu lange auf das Display, um etwas zu bestellen oder durchzuspielen. Und wenn wir dann aufschauen, sind wir oft an einem Ort, an dem sowohl Sex als auch Weihnachten verpönt sind. Nichts tut so weh wie dieser analoge Blick des Gegenübers: Du bist hier falsch!

7. Nicht richtig eingeleitet
Wir kennen das von der Kunst, dem Kabarett oder der Kommunikation. Wenn etwas falsch eingeleitet wird, kannst du es oft nicht mehr retten. Eine dumme Bemerkung zu Anfang kann den ganzen Abend schmeißen. Auch für SUW gibt es mehr zerstörende als aufbauende Sätze. Furchtbar sind Einleitungen wie: Klingeling, jetzt ist Weihnachten! Oder: Rülps, zieh dich schon mal aus! Die meisten Fehleinleitungen fußen übrigens auf Individualfehlern. So kann man eine gesellschaftlich bewährte Floskel anwenden und dennoch falsch liegen. Das macht SUW zu einem so brisanten Harakiri-Unterfangen.

8. Zu wenig performativ
Wenn Weihnachten und Sex überhaupt einen Sinn machen, dann höchstens als performativer Akt. Performativ bedeutet: Durch das formale Aussprechen eines Aktes wird dieser Realität.
Das Gericht spricht im Namen der Republik und dann ist es fix.
Ein Funktionär schüttet Wasser über das Babyface und spricht ein paar Worte, wodurch es getauft ist.
Ein anderer spritzt Wasser in jene Grube, in der man drinliegt, und sagt Staub zu Staub, woraufhin man zu Staub zerfällt.

Für Weihnachten gilt: Man sollte beim Hinausgehen aus der Feierlichkeit zueinander sagen: Seht her, das war heuer Weihnachten!
Und beim Sex empfiehlt sich der bewährte Diskurs des Volksmundes:
Was soll das werden, wenn es fertig ist?

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    ich staune immer wieder über deine kombinationsgabe, lieber helmuth, auch über die schlüsse, die du daraus ziehst. und beneide dich manchmal um deine fantasie!

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