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Helmuth Schönauer
Wie noch nie
Stichpunkt

Das permanente Blabla rundherum halten wir ja nur aus, weil wir es als Blabla schnell wegwischen oder weiterblättern. So wird nichts so schnell entsorgt wie Weihnachtspost und Neujahrsgrüße.

Wenn man dann alles überlebt hat und im neuen Jahr angekommen ist, stellt man fest, es ist alles so wie immer. Nichts von dem, was man uns im alten Jahr eingeträufelt hat als Nachricht, hat eine entsprechende Übereinstimmung mit der direkt wahrgenommenen Realität.

Die Nachrichten sind zum Großteil Übertreibungen, die nicht einmal für Unterhaltung sorgen. Ein Blick aus dem Neujahrsfenster bringt die wichtigste Formel des letzten Jahres noch einmal sanft zum Anklingen.

Wie noch nie!

Alle Sätze mit dieser Endfloskel versehen, beschreiben recht gut den Zustand der Welt.

Die Gletscher schmelzen wie noch nie.
Der Tourismus boomt wie noch nie.
Am Innsbrucker Flughafen sind neue Fluglinien am Werk wie noch nie.
Die Chinesen fliegen wieder wie noch nie.
Hallstatt erwartet einen Overkill wie noch nie.
Die ÖBB sind dank Klimaticket voll wie noch nie.
Im Dezember gab es in Tirol Schi-Tote wie noch nie.
Die Silvesterkracher waren laut wie noch nie.

Vermutlich kann man auch das neue Jahr damit verbringen, alle Sätze mit dieser Floskel des Wachstums und der Prosperität zu beenden. Ein Hobby-Philosoph hat dafür eine gute Erklärung:

– Die permanente Ausdehnung des Weltraums zwingt die Menschen dazu, ständig ihre Bilder von der Welt nachzujustieren, das heißt auszudehnen.
– Im wirtschaftlichen Segment nennt man das Inflation.
– Wenn sich der Weltraum ausdehnt, müssen sich auch die Preise ausdehnen, weil es sonst zu einer Unterzuckerung des Planeten käme.

Das erklärt auch, weshalb in Tirol die Bevölkerung wieder gewachsen ist, weil sich ja auch der Boden der Besiedlung ausgedehnt hat.

Der Verkehr ist gewachsen, weil er pro Fahrzeug leiser geworden ist. Es braucht jetzt mehr KFZ, um den gewohnten Level zu halten bzw. auszudehnen, wie es der Erwartung der Menschheit entspricht.

Mit dem Verschwinden der Pandemie verschwinden auch wieder die Esoteriker, die eine Zeitlang im öffentlichen Diskurs die Oberhand bekommen haben. Mittlerweile sind wieder die Pragmatiker am Werk. Es stimmt: die Klimaziele sind nicht einhaltbar, die Bevölkerung nimmt zu und die Lebensqualität für den Einzelnen schwindet.

Aber als Ganzes gesehen ist es der Menschheit noch nie so gut gegangen wie jetzt. Die Menschheit ist groß und glücklich wie noch nie. Man schließt das Neujahrsfenster, die Luft ist wirklich knall-versmogt wie noch nie.

Im neuen Jahr werden sie uns alle wieder viel Blabla erzählen und wir werden mitdiskutieren. Es wird wieder alles größer und besser werden. Das einzige, was uns manchmal interessiert, wenn wir das Fenster zur Realität geschlossen haben:

Kracht es eigentlich, wenn die Welt implodiert, oder geht das still und schleichend vor sich?

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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