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Helmuth Schönauer
Literatur sucht ihren Sinn.
Zwei Tiroler Dichter im Bobo-Feuilleton
des STANDARD
Stichpunkt

1.
DER STANDARD ist eine der letzten Zeitungen Österreichs, die sich noch so etwas wie ein Feuilleton leisten, worin in alter Weise auch über Literatur räsoniert wird. In ihrer Ausrichtung ist die Zeitung an manchen Tagen zu einem Bobo-Magazin mutiert, worin Gedanken-Veteranen aus dem achten Wiener Bezirk nachlesen können, was in den nächsten Tagen der Trend sein wird.

Rare Aussteiger berichten, wie sie wohnen. Geschlechts-Experimentierende erzählen von ihrem momentanen Status und Dichtende im Ausgedinge schanzen sich gegenseitig Hommagen und Würdigungen zu. Solche Themen machen den Kern der Bobo-Philosophie aus, deren Bezeichnung aus Bourgeois und Bohémien zusammengesetzt ist.

2.
In der Provinz ist es schwer, die Bobo-Kultur zu pflegen, weil es an den entsprechenden Abstellplätzen für Lastenfahrräder, Altbauwohnungen im Biedermeierstil und regenbogenfarbenen Zebrastreifen fehlt. Die STANDARD-Artikel berichten dem Provinzler daher von einer Welt, von der er durch eine mühsame Railjet-Fahrt über Stunden getrennt ist.

Dabei ist das Railjet-Fahren an sich schon eine Bobo-Tätigkeit, wenn man sich das Geschwätz und Gekreische in den Alleinerziehenden-freundlichen Großraumwaggons anhört. Manche fahren deshalb mit dem Railjet von Innsbruck aus nur bis Wörgl, weil sie dann schon genug haben vom STANDARD-Gefühl, wie die Zeitung es ihnen vorlebt.

3.
Für Tiroler Dichter hingegen ist es noch immer der sogenannte Jahreshöhepunkt, wenn eine Äußerung von ihnen im exquisiten Sehnsuchts-Blatt abgedruckt wird. Am 20. April 2024 durften daher eng getaktet die Tiroler Hans Platzgumer und C. W. Bauer dem literarischen Feuilleton ihre Aufwartungen machen.

20. April 24 // Christoph W. Bauer würdigt Robert Schindel: Es schindelt in meinen Gedanken.

20. April 24 // WÜRDIGUNG. Warum sich Hans Platzgumer ein Leben ohne Kafka nicht vorstellen kann.

Ehe man in die Lektüre verfällt, halten den historisch argwöhnischen Leser freilich noch zwei Fragen auf.
Was haben die beiden gemeinsam, dass sie so knapp nebeneinander auftreten? Und hat das eventuell etwas mit dem 20. April zu tun, weil an diesem Tag ausgefuchste Widerstandskämpfer und Antifa-Logistiker frei haben, damit sie nicht in den Verdacht widerständiger Wiederbetätigung geraten, weshalb zwei immer lustige Tiroler her müssen.

Wobei es darum ging, absolut unverfängliche Themen zu finden: Christoph W. Bauer hat einen Geburtstagsgruß an Robert Schindel zu dessen Achtziger geschickt. Hans Platzgumer hat sich in Franz Kafka hineinversetzt und seine eigene Depression dabei mit dem Vokabular des Meisters aus Prag unterlegt.

Und beide durften bei dieser Gelegenheit ihre aktuellen Bücher promoten, womit der endgültige Sinn ihres Sinnierens und des Sinnierens über Literatur überhaupt geklärt ist.

Der Sinn der Literatur besteht in ihrer Promotion!

4.
Der Inhalt der beiden Artikel ist dermaßen kalkulierbar, dass er hier nicht gespoilert werden soll, um die finale Spannung nicht zu vernichten. Anstelle eines literarischen Kommentars seien deshalb nur die jeweils ersten Postings zitiert, die natürlich alles andere als objektiv sind. Aber ein Artikel im STANDARD endet eben oft in unerwarteten Reaktionen.

Posting zu Platzgumer:
[flirting disaster]
Das Problem vom Platzgummer ist, dass er sich dank diverser Chemie eher zu viel vorstellen kann.

Posting zu Bauer:
[critica diabolis]
„Ich ziehe den Hut vor ihm, seine Gedichte begleiten mich durch die Tage, kommen mir spontan in den Sinn, dann schindelt es in meinen Gedanken.“ Oh Mann, geht nicht noch mehr Klischee und Phrase? Dieses Niveau hat Robert Schindel wirklich nicht verdient!


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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