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Helmuth Schönauer bespricht:
Rudolf Lasselsberger
Auf einmal war ich mitten drin.
Texte und Zeichnungen

Rudolf Lasselsberger bringt in seinem straffen Bildungsroman Auf einmal war ich mitten drin entscheidende Lebensfelder zu Sprache, indem er komplizierte Entwicklungsprozesse einfach anhält und in Wort und Bild ein literarisches Selfie macht. In neun Miniaturen werden die entscheidenden Knackpunkte für eine gelungene Lebensformung angesprochen, wie ein Kniegelenk kurz angespannt und dann wieder entlastet. 

Zudem wird die entsprechende Episode mit einer knackigen Überschrift versehen, und eine abschließende Skizze auf patiniertem Millimeterpapier schließt den Fall ab, der oft als Highlight eines ganzen Schuljahres empfunden wird.

Die Schundheftln gelten heute als rare Dokumente einer rasanten Pädagogik aus den sechziger Jahren. Um diese Zeit steht der Klassenvorstand regelmäßig am Schulportal und kontrolliert, ob nicht jemand Comic-Hefte im Ranzen hat. Allein, dass der brave Held kontrolliert wird, ob er nicht doch etwas Bebildertes unter die Schulsachen geschmuggelt habe, empfindet dieser als entwürdigend. – Ein halbes Jahrhundert später wird er vielleicht diesen pädagogischen Argwohn verstehen, als die Story um die Welt geht, wonach der bayrische Vizeministerpräsident als Schüler Nazi-Devotionalien in die Geschichtsschreibung geschleust hat. Ihn hätte man kontrollieren müssen, dann wäre dem Land viel internationale Schmach erspart geblieben.

Lauter Einser ist für gute Schüler jene Zauberformel, mit der sie die Tore zur Welt aufstoßen, mögen sie selbst noch so entlegen und von Bildungszentren entfernt wohnen. Zur Einser-Leistung gehört auch die Bescheidenheit. Der Ich-Erzähler lässt daher bei Fragen an die Klasse immer den anderen den Vortritt, wenn es um die Beantwortung eines Problems geht. Wenn niemand mehr was weiß, kann er sich ja immer noch zu Wort melden und den Einser abholen.

Als die Episode mit der Party passiert, ist der Erzähler schon etwas älter, aber auf der Gefühlsebene zittrig wie ein Säugling. Beim entscheidenden Tanz ist er einen Schritt zu langsam und verpasst dadurch die angebetete Helga, die prompt in die Tanzarme eines anderen fällt.

Auch beim anschließenden Schulausflug kommt es im Bus bloß zu einer Berührung mit einem Oberschenkel von Helga, die aber folgenlos bleibt. Daraufhin zieht sich der Held auf eine Lebensformel zurück, die im ewig gut tun wird: Aus dem Busfenster schauen und sich nicht bewegen trauen.

Einen Höhepunkt literarischer Bildung stellt im vorigen Jahrhundert das Aufsagen von Schillers Bürgschaft dar. Zusammen mit einer hoch gebildeten Kommilitonin bewältigt der Held das Herunterspulen fehlerfrei. Abwechselnd bewältigen die beiden alle Strophen makellos und bringen sogar den Klassenvorstand, Hiasl genannt, zum Klatschen.

Geometrisches Zeichnen gilt gemeinhin als jenes Fach, in dem es auf die Hardware ankommt. Der Held hat nicht nur das beste Geodreieck des Jahrhunderts im Ranzen, das Lang-Lineal ist wie eine Lang-Spielplatte mit den aktuellen Band-Namen beschriftet. Auch hier kommt es auf die Länge des Namens drauf an: Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich.

Nach einem schulischen Transfer in die nächste Bezirksstadt wird das Fußballtraining zum prägenden Ereignis. Auf der Jagd nach dem Lebensgefühl von Ajax Amsterdam wird selbst das finsterste Flutlichttraining zu einem Leuchtband mit dem Schriftzug Johan Cruyff.

Die Abschlussepisode ist ein Wortspiel: Das Tor im Fußball entspricht in der Pädagogik jenem Tor, das einem für den Weg hinaus in die Welt offensteht.

Die Zeichnungen sind feinfühlig minimalistisch ausgeführt und halten sich an die Struktur des Millimeterpapiers, was ihnen einen sauberen und korrekten Anstrich gibt. Man ist als Betrachter geneigt, intuitiv ein Sehrgut zu geben.

Der sogenannte Anhang besteht aus 14 Landschaften von Erich Sündermann. Die Bilder erzählen eine ähnliche Bildungsgeschichte, die in diesem Fall aus den Strukturen, Formen und Hügeln der Landschaft herauswächst.
Da die beiden Künstler aus der gleichen Gegend stammen, ist zu vermuten, dass ihnen eine ähnliche Empfindungsgeschichte zugrunde liegt. Text und Bild formen sich zuerst in zwei Künstlerseelen und werden in Flügelmappen zu einem Ganzen zusammengeführt.

Rudolf Lasselsberger gestaltet seine Bücher wie Arbeitsunterlagen der Erinnerung, Cover, Beschriftung und Layout erinnern an Baupläne, die jemand ausrollt, um auf ein paar Vermessungspunkte aus einer unversiegelten Kindheit zu zeigen.

Rudolf Lasselsberger: Auf einmal war ich mitten drin. Texte. Zeichnungen von Erich Sündermann. Anhang 14 Landschaften. Wien: loma/druck.at 2024. 52 gez. Seiten. EUR 17,50. keine ISBN.
Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten, lebt in Wien.
Erich Sündermann, geb. 1952 in Ruprechtshofen, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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