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Helmuth Schönauer bespricht
für Buch aus Tirol:
Eva Maria Gintsberg
Herr Klein
Roman
Die Reise
Erzählung

Herr Klein

Kann man Alter, Gebrechlichkeit und Geistesverwirrung entkommen, wenn man in ein fiktionales Reich ausweicht? Und hilft für etwaige Mühsal eine imaginierte Pflegekraft, die durch bloßes Zuhören die Welt gut macht?

Eva Maria Gintsberg entwirft mit ihrem Roman Herr Klein eine märchenhafte Welt, der man anmerkt, dass sie im Bedarfsfall auf die Schwerkraft verzichten kann. Hauptfigur ist eine Erzählerin, die einen seltsamen Posten bei einem Herrn Klein antritt. Sie soll zuhören, die Gedanken aufräumen und dem Herrn beistehen, wenn er den Faden verloren hat.

Herr Klein lässt sich kaum betreuen und schon gar nicht einordnen. Auf jeden Fall ist er gespalten in Körper, Geist und Verhalten. Einmal sitzt er im Kirschbaum und spuckt Kerne durch die Gegend, ein andermal sitzt er im Rollstuhl in der Bibliothek. Seine List: Er kann durch die Bücherwand verschwinden.

Die Erzählerin weiß gar nicht, wo beginnen, weil es keine Chronologie gibt in jenem Reich, das aus Trance, Suggestion und Nostalgie besteht. Auf der sichtbaren Fläche könnte man von einer Zugehfrau sprechen, die regelmäßig den leicht verwirrten Helden betreut und ihm seinen Lebenslauf und vor allem seine Belesenheit in kleinen Portionen entlockt.

Auf der Fläche der Phantasie breitet sich hingegen eine immense Bücherwelt aus, die vielleicht die wahre Welt des Herrn Klein bedeutet. Womöglich ist auch er nur etwas Angelesenes wie alle sonstigen Besonderheiten, etwa ein Goldfisch, der noch nichts von seiner eigenen Gattung gehört hat, weil er immer schon als körperloser Begriff gelebt hat.

Während der Rollstuhl fahrende Held offensichtlich jenem Reich des Bibliothekskosmos entsprungen ist, wie wir ihn meisterlich von Jorge Luis Borges vorgestellt bekommen, ist der Kirschen spuckende Teil ein Repräsentant unverwüstlicher Kindheit und entspricht einer Alice im Wunderland. Wer weiß, ob die Kirschkerne nicht Halluzinogene sind, die man in besonderen Supermärkten kaufen kann.

Vom Baum der Erkenntnis herab erzählt Herr Klein von seinen Freunden aus Kindertagen, einer hat Oskar geheißen, seine Mutter jedenfalls erzählt von einem Oskar, der ihr Kind gewesen sein soll. Andererseits ist dieser Oskar womöglich aber nur eine angelesene Figur, die aus der Blechtrommel entsprungen ist.

Regelmäßig wird das Ratespiel um Identitäten unterbrochen von der Magie des Lesens.

Ich war verunsichert, zweifelte plötzlich. War ich blind oder blöd? Vielleicht war die Bibliothek, das ganze Haus nur eine Kulisse. Die Bücher Dekoration. Die letzte Vorstellung eines in die Jahre gekommenen Stückes. Und Herr Klein spielte die Rolle seines Lebens. (57)

Wenn Leute lange genug leben, wissen sie selbst nicht mehr, was sie erträumt oder erlebt haben, zumal das jüngere Publikum diese Geschichten nicht überprüfen kann. Die Erzählerin übernimmt mit der Zeit die Marotten des liebenswürdigen Phantoms, das halb stofflos, halb als Stoff durch die Geschichten braust.

An manchen Tagen genügt es, das Wetter aufzuschlagen vor der Tür, und schon nimmt eine phantastische Handlung ihren Lauf. Besonders stark wirken diese Erlebnis-Pastillen bei Vollmond, plötzlich beginnt es zu rumoren wie in einem Hotel für Gespenster, die Schaukeln im Garten beginnen zu schwingen, gleichzeitig schwappt Wasser durch die Gassen, als durchfluteten sie eine Stadt aus Moder.

Seiten später sind noch immer die Geschichten zu Gange, aber der Bücherstapel, aus dem sie strömen, wird zusehends wackeliger, und dann kracht er zusammen.

Die letzten Geschichten flattern auf als verschreckter Story-Schwarm. Bücher erzählen auch dann noch weiter, wenn sie zu Boden gefallen sind.

Und draußen steht der Baum unbeirrt weiter, obwohl niemand mehr Kirschen daraus hervor spuckt. Niemand weiß, wie alt der Baum ist, niemand kann das Alter von Herrn Klein abschätzen. ‒ Die Erzählerin setzt sich in den Fauteuil des Herrn Klein und übernimmt seine Identität.

Eva Maria Gintsberg hat einen Traum vom Lesen aufgeschrieben, niemand erwacht daraus schweißgebadet, niemand ist erschöpft, weil es ein guter Traum ist. In einem verschollenen Märchen von den Bibliothekaren heißt es, dass sie den Herrn Klein täglich träumen.

Eva Maria Gintsberg: Herr Klein. Roman.
Scheffau: edition himmel 2021. (= Bäng #002). 173 Seiten. EUR 19,-. ISBN 978-3-903667-01-3.



Die Reise

Auf der wahrlich großen Lebensreise verlieren die Reisenden allmählich das Ziel, am Schluss wissen sie gar nicht mehr, dass sie auf Reisen sind.

Eva Maria Gintsberg stellt in ihrer Erzählung um einen jähen Aufbruch ein paar Protagonisten am Bahnsteig zusammen und lässt sie im Morgengrauen losfahren.

Die Ich-Erzählerin, die das Reisen nicht gewöhnt ist, packt eines Tages einen Koffer und begibt sich in der Früh zum Bahnhof, sie sticht aus der Menge der Wartenden hervor, vielleicht, weil sie ein besonderes Ziel hat. Sie will nämlich in die Vergangenheit ihres Vaters reisen, der während des Krieges eine Affäre gehabt hat.Nach seinem Tod sind nur ein paar rätselhafte Buchstaben übriggeblieben, die darauf hindeuten, dass es irgendwo eine Geliebte mit dieser Signatur gibt.

Im Zug trifft die Erzählerin auf einen älteren Herren, der ein Fläschchen gegen den Alltag dabei hat und auf dem Weg zu seiner Tochter ist, die nach einem Suizidversuch apathisch in einem Sanatorium liegt. Zwischendurch läuft ein rothaariges Mädchen durch die Garnitur und bläst ihren Kaugummi auf zu Blasen, die jenem Comics entsprechen, den sie herumreicht. Bald einmal stellt die Heldin fest: Der eigentliche Grund meiner Reise ist mir abhanden gekommen. (27)

In einer zweiten Erzählschicht ist von Familiensumpf die Rede, in den alle Protagonistinnen verstrickt sind. Das Mädchen Agnes hat den alkoholischen Vater an die Tante verloren, die eigentlich hätte auf es aufpassen sollen. Sie verlässt eine depressive Mutter und hockt mit der Ersatzmutter im Zug, sie kennt sich nicht mehr aus, wer wofür zuständig ist.

Aus der Eigenperspektive schaut die depressive Rosa auf sich selbst hinunter, der Herrgott hat sie verlassen und alles ist schief gegangen. In einem eruptiven Anfall liegt sie unter einem Apfelbaum und reißt Grasbüschel aus. Ihre Tochter ist für immer weggefahren.

Am hinteren Ende der Erzählung hockt die stille Frieda ihren Lebensabend herunter. Ein bisschen Erinnerung an die Liebschaft im Krieg gibt es noch und dann das Beobachten eines älteren Herrn, der wohltuend verlässlich seine kranke Tochter besucht.

Die „Reise“ ist kunstvoll aus drei Strängen zusammengeflochten, an der Oberfläche sind es Reisebewegungen, wie sie rund um eine Zugfahrt unscheinbar abgewickelt werden, etwas tiefer liegen die familiären Verstrickungen, aus denen die Heldinnen selbst mit größtem Bemühen nicht hinausfinden, und als dritte Ebene könnte man das Reisen in der Sprache selbst auffassen.

Vier Kapitel sind nämlich nicht nur vier Heldinnen zugeordnet, sondern auch vier Erzählmethoden. Das Unausgesprochene flüstert. (3) / Wenn Bäume sprechen. (29) / Das Schweigen legt eine Pause ein. (55) / Die Erinnerung (65).

Die Geschichten liegen selten auf einer Ebene, sodass man sie mit einer Handbewegung zusammenwischen könnte, sondern sie sind schroff ineinander verkeilt, verschwinden im Unterbewusstsein und tauchen in Rhizom-Manier an völlig anderer Stelle wieder auf.

Wer einmal einen Erinnerungsprozess angestoßen hat, muss damit rechnen, dass dieser sich verselbständigt. Dabei überlappen sich die biographischen Abschnitte, mitten in die Kindheit kann eine Altersweisheit eindringen, im Arbeitssaft stehend bricht plötzlich der Boden weg, und alte Zeichen lassen späte Triebe ausbrechen und geraten in den Glanz einer neuen Bedeutung. Alle sind heftiger unterwegs, als sie es selbst ahnen.

Eva Maria Gintsbergs Reise ist eine subtile Auseinandersetzung mit den Schatten einer Familiengeschichte. Darin werden die Verwundungen neu angeritzt, damit sie durch Erzählen neu verbunden werden können.

Vielleicht ermöglicht erst dieses Aufsuchen versunkener Erwartungen eine Heilung. Die Erzählung nimmt letztlich viel Druck aus den angestauten Zerwürfnissen der Heldinnen. Wie bei großen Reisen üblich, ist sie nie zu Ende.

Eva Maria Gintsberg: Die Reise. Erzählung.
Scheffau: edition himmel 2020. (= Bäng #001). 70 Seiten. EUR 16,-. ISBN 978-3-903667-00-6.
Eva Maria Gintsberg, geb. 1966 in St. Johann/T, lebt in Scheffau.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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