Helmuth Schönauer
Eine Mumie moderiert.
Stichpunkt
Am letzten Jännersamstag geschieht am literarisch weltberühmten Mitterweg in Innsbruck geradezu Sensationelles.
Ein Haufen von Demonstrierenden malt einen Not-Zebrastreifen von der Apotheke zum Kindergarten. Dazu gibt es viel Tamtam mit den Kindern, auf den ersten Blick gleicht die Truppe den üblichen Kids-Abholern, die während des Wartens noch schnell über die Sicherheit von Kindergarten-Scootern und Spielzeug ohne Lithiumtabletten diskutieren.
Männer, wenn sie allein unterwegs sind, wechseln vorsichtshalber die Straßenseite, weil sie sonst in die Nähe digitaler Kindervergewaltigung kommen, wie man früher die Kinderschänder genannt hat. Aber heute sind diese vom Leben gebeutelten Rentnersolitäre durchaus willkommen und werden in den Stehkreis der Demonstrierenden miteinbezogen.
Demonstrationshändchenhalten und das Lied Hänsel und Gretel sind angesagt. Das Lied hat einen neuen Text, wobei mit Gretel die skandinavische Wunderfrau gemeint ist. Das Publikum bricht jäh in Freudentaumel aus, als der ORF-Tirol gesichtet wird. Offensichtlich ist irgendwo ein Schirennen ausgefallen, sodass das Kamerateam kurz in den Westen der Stadt jagt, um die Demo einzufangen.
Spötter argwöhnen, dass die Kamera ursprünglich nur wegen des allabendlichen Wetterberichts unterwegs ist und eher aus Versehen auf die Demo gestoßen ist. Vielleicht wollten sie auch nur zum Flughafen und haben sich verfahren wie so viele Zubringende des Airports, auf dem an diesem Samstag wieder hundert Luftbewegungen mit Jets angesagt sind.
Und noch während am Zebrastreifen gemalt wird, schleudert die Wortführerin ihre Botschaft in die Stille zwischen zwei Landungen:
– Wir wollen Zebrastreifen für die Kinder!
– Wir wollen ein Tempolimit, damit wir lebend zur Apotheke kommen, wenn wir Medikamente brauchen!
– Wir pfeifen auf die Parteien im Gemeinderat, die allesamt auf uns pfeifen!
Jetzt ist es heraußen. In Innsbruck ist es unter einem grünen Bürgermeister nicht möglich, einen Zebrastreifen zu bekommen, weil er mittlerweile mumifiziert ist und steinern in seiner Bürgermeisterkette hängt, wenn irgendwas abgestimmt werden sollte. Jetzt rächt es sich, dass er nie ein Programm gehabt hat, außer der Karriereplanung für sich selbst. Sogar die eigene Gemeinderatsfraktion hat sich gespalten und ihn teilweise verlassen. Er, der alle Probleme moderieren wollte, ist zu einer Mumie geworden, die die Themen an schlechten Tagen nicht einmal mehr vertagen kann, sondern einbalsamiert aussitzt.
Die Truppe, die am Mitterweg demonstriert, gibt sich achtsam sauer und desillusioniert.
– Wenn die Politik nichts mehr zusammenbringt, werden wir sie eben selbst in die Hand nehmen.
Es sind durchaus angefressene Sätze dabei, die man als links-grüner Populistenjäger sofort zurückweisen müsste. Am aufregendsten aber ist für manche die Erkenntnis, dass man Zebrastreifen nicht mit einer App herunterladen kann, sondern im Bedarfsfall selbst analog aufmalen muss! Ratlosigkeit allenthalben, manche freuen sich schon auf den Fernsehauftritt im Tirol heute, wenn am Bildschirm endlich Gesichter auftauchen werden, die tagsüber gar nicht Schi gefahren sind.
Während sich die Demo ohne fremdes Zutun auflöst, macht schon ein interessantes Gerücht die Runde. Der mumifizierte Bürgermeister soll bis zur nächsten Wahl von einer KI abgelöst werden, die auf den Algorithmen der Parteiprogramme fußt.
Buchtipp:
Helmuth Schönauer: Der Mitterweg ist ausweglos, Innsbruck 2013.
Digitale Bibliothek Universitäts- und Landesbibliothek Tirol
freier Zugang: https://diglib.uibk.ac.at/ulbtirol/content/titleinfo/7963767
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