Helmuth Schönauer bespricht:
Wer sind die Großen
der belgischen Literatur?
Über Willem Elsschots
Tschip
Roman

Die Leipziger Buchmesse 2024 mit dem Schwerpunkt Niederlande und belgisches Flandern lässt allenthalben die Frage hochkommen: Wer sind die großen Drei der belgischen Literatur? Die Antwort schickt einen sofort an die Regale auf der Suche nach Georges Simenon, Hugo Claus und Willem Elsschot. 

Dieser Willem Elsschot wird in einer frischen Übersetzung von Gerd Busse im Grenzland Verlag in Eupen präsentiert.

Tschip ist ein schmaler Klassiker der grotesken Unterhaltungsliteratur aus dem Jahre 1934. Ein gutsituierter Erzähler beschließt nach jeder Dienstreise hinaus in die weite Welt endlich in Antwerpen sesshaft zu werden und sich für ewig in seinem Haus-Büro einzurichten. Als er sich wieder einmal ausstreckt, um sich auszuruhen, wird er von einer seltsamen Störung heimgesucht.

Tochter Adele hat sich nämlich in ihrem letzten Jahr vor der Reifeprüfung mit einem polnischen Kommilitonen eine Liebschaft angefangen und führt ihn als Freund für eine glückliche Zukunft den Eltern vor. Bald kommt dem Erzähler die Aufgabe zu, vom warmen Ofenplatz aufzustehen und die Ehe der Tochter anzubahnen.

Als Fachmann für Korrespondenz und Geschäft stellt der Vater einen gut bürgerlichen Briefverkehr nach Polen her. Tatsächlich kommt bald darauf das dortige Familienoberhaupt in den Westen und es findet eine Anbahnungskonferenz statt. Die Rituale zwischen Hilflosigkeit und Frömmigkeit gleichen einem Staatsbesuch.

Über die eigentliche Chose wird nichts geredet, dafür tastet man sich über religiöse, historische und wirtschaftliche Animositäten der jeweiligen Heimatländer an ein steifes Versprechen für die Zukunft heran.

Dabei wird die Anbahnung unterschwellig geleugnet, die Tochter gibt sich ahnungslos, denn sie will nicht als verlobte Jungfer ein Jahr lang zur Schule gehen. Dem polnischen Sohn wird der Befehl erteilt, sich um das Studium zu kümmern und Adele in Ruhe zu lassen. Totschweigen heißt die Parole.

Das künftige Paar widmet sich der Schule, und für erregte Gefühle muss die Musik herhalten. Adele singt bei Gefühlsspitzen immer eine Tyrolienne, was als Inbegriff für emotionale Aufwühlung gilt. Ihr La-la-la-iti, la-la-la-itu war bis auf die Straße zu hören.“ (46)

Aus dem diplomatischen Nichts erwächst plötzlich ein handfester Hochzeitstermin und der Erzähler, für seinen Pragmatismus geschätzt, bereitet die Hochzeit am Strand vor, wo man das Wochenendhaus nützen kann.

Während die Hochzeit formell und amtlich schon läuft, tut sich jäh ein Graben auf: Die Religion ist noch nicht geklärt. In Polen muss alles katholisch sein.

Folglich inszeniert der Vater für seine Tochter schnell Taufe, Beichte und kirchliche Hochzeit, was für liberale Geister im Handumdrehen absolviert werden kann.
Der Rest ist Glück und Harmonie. Adele kriegt in Polen ihr erstes Kind, alle sind global miteinander versöhnt, und dem Säugling ist es egal, über welches Taufbecken er gehalten wird. 

Als das Enkelkind das erste Mal beim Großvater im Westen ist, kommt es zu einer berührenden Szene, die es mit dem guten Adalbert Stifter aufnehmen könnte. Der Enkelzwerg steht im Garten unter einer Schar von Spatzen und Großvater kann nicht anders, als ihn nach Spatzenart Tschip zu nennen.

Für romantische Gemüter ist es ausreichend, den Roman mit diesem Piepser enden zu lassen.

Willem Elsschot freilich fügt dem Text noch Notizen an, was ihm widerfahren ist, als er mit dem Religionswechsel zu freizügig im Text umgegangen ist. Unmoralisch und pietätlos dürften die geringsten Ausdrücke gewesen sein, die eine bigottische Leserschaft dem Tschip entgegengebracht hat. Wohl aus der Angst heraus formuliert, dass ein Spatzenlaut das Universum erklären kann, mildern diese Notizen den Aufruhr rund um den Vogellaut Tschip. Sie sind mittlerweile fester Bestandteil des Romans geworden.

Gerd Busse schließlich berichtet von den Schwierigkeiten, die eine erste Übersetzung ins Deutsche 1936 allen Beteiligten gebracht hat, gilt es in diesen Jahrzehnten doch als besonders kollaborativ, sich auf das Deutsche einzulassen. 

Und wenn die Religion an einem Vormittag gewechselt wird, wer weiß, ob dann nicht auch die entsprechenden ideologischen Hemden im Nu übergestreift sind.
Tschip freilich lässt sich von all diesen Klein- und Zeitgeistern nicht unterkriegen. Er wird erfolgreicher Anwalt und erfreut sich bis ins hohe Alter einer glücklichen Gelassenheit, die er auf den Kosenamen zurückführt, den ihm sein Großvater vor neunzig Jahren im Garten mitten unter Spatzen gegeben hat.

Willem Elsschot: Tschip. Roman. A. d. Niederl. von Gerd Busse. Mit Nachwort ‚Anstiftung zum Aufruhr‘. [Orig.: Tsjip, Amsterdam 1934.]
Eupen: GEV / Grenz-Echo-Verlag 2024. 112 Seiten. EUR 14,-. ISBN 978-3-86712-191-0.
Willem Elsschot (= Alphonsus Josephus de Ridder), geb. 1882 in Antwerpen, starb 1960 in Antwerpen. / Gerd Busse, geb. 1959 in Visbek, lebt in Dortmund.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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