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Helmuth Schönauer bespricht:
Elisabeth R. Hager
Der tanzende Berg
Roman

Elisabeth R. Hager gehört zu jener Handvoll Schriftstellern, die einst zu Studienzwecken aus dem Land ausgestiegen sind, um sich einen frischen Blickwinkel auf die geschlossene Gesellschaft Tirols anzueignen. 

In der Blase des Gebirgslandes ist nämlich nun schon die dritte Generation vom Tourismus aufgezogen und wird unauffällig beäugt und niedergehalten, damit sie ja keine Geschäftsstörung bei den Nächtigungen auslöst.

In der Literatur gibt es mittlerweile einen aufklärenden Plot für dieses Genre des touristischen Katastrophen-Romans: er besteht aus Heldin oder Held, die einst aus dem Bergland abgehauen sind und jetzt in der Mitte ihres Lebens wieder in der ehemaligen Heimat vorbeischauen, um zu sehen, dass alles verwirrt und zerbröselt ist. Als Autoren mit ähnlicher Tourismus-Kritik erweisen sich jüngst Norbert Gstrein, Markus Köhle und Robert Prosser.

Der tanzende Berg beginnt mit der Übergabe des Geburtstagsgeschenks an eine pompöse Hotelierstochter. Gerade als das Geburtstagskind seinen frisch ausgestopften Minihund King streicheln will, fliegt alles in die Luft.

Das Kapitel ist trocken mit eins überschrieben, und sofort wird klar, dass hier eine Geschichte eingeklatscht wird wie beim Start einer Rakete. In den herunter gezählten zwölf Stunden von der Übernahme eines Auftrags bis zu seiner desaströsen Ausführung erfahren wir die Lebensgeschichte von drei Personen, die im Schatten einer aufgeblähten Tourismuswelt ihr Leben zu leben haben.

Die Erzählerin Marie ist nach dem Studium wieder in die Kleinstadt zurückgekehrt, die durch Schwarzsee und Kitzbühler Horn vage definiert ist. Sie hat vom Onkel die Ausstopferei übernommen und soll heute binnen Stunden den Hund der Tochter eines führenden Hoteliers präparieren.

Ihre Gedanken sind immer noch bei einem gewissen Youni, der vor Wochen umgekommen ist, der schwarze Ruß-Ring um sein Zimmerfenster an der Bahnstrecke zeigt allen Vorbeifahrenden, dass er sich hier umgebracht hat.

Überraschend taucht eine Freundin aus Kindertagen auf, sie gilt überall als die Butz und arbeitet bei den ÖBB als Wagerl-Kellnerin in Intercity-Zügen. Die Stunden laufen lautlos ab, der Chihuahua wird gekocht, zerlegt und mit einem Drahtgestell unterlegt. Der Kleinhund soll als aufrechter King präpariert werden. Nur ganz Konkretes taugt zur Abstraktion. (46)

Butz kommt gleich zur Sache. Sie hat mit dem verstorbenen Youni einen Verteilerring mit Gras aufgezogen. Jetzt soll Marie die Kiste herausrücken, die als Gras-Depot gedient hat.

Während die Beziehungsstränge zu einer schlüssigen Erzählung zusammenwachsen, ergibt sich daraus eine soziologische Studie über das Leben im Schatten des Tourismus. Niemand ist letztlich schuld daran, denn wir alle haben unser eigenes Drama.(147) Aber der Moloch Tourismus frisst den ganzen Talkessel auf.

Hotels thronen wie Schloss-Imitationen von Franz Kafka über dem Gelände, die Bevölkerung ist den Schlossherren untertan, denn sie geben Arbeit, und sei es auch nur, dass man Gras an gelangweilte Gäste verkaufen kann.

Die ehemaligen Landwirtschaften sind zu Immobilien geworden. Betuchte Pensionisten, vorzugsweise Münchner Ärzte-Ehepaare, halten sich Kose-Tiere, denen sie Steak verfüttern, während das Nutzvieh von der zugekauften Weide flieht. Die ehemals stolzen Kinder der Bauern, denen man untersagt hat, mit den Siedlungskindern zu spielen, sind verarmte alkoholische Kreaturen geworden, deren Floskeln sinnlos in den Gesprächen zucken, die sie meist mit sich selbst führen.

Als sich die beiden Heldinnen noch schnell auf den Weg machen, um ein Stück Totholz für das Stopf-Tier zu suchen, – der Sockel ist für das Vieh der einzige Kontext (148) – kommt es beim Besuch der Almbar bei Tageslicht zu einer Schlägerei. Die beiden Frauen schlagen zurück, als sie von den kaputten Männern angegangen werden. Aber für ihr Leben ist das keine Lösung, sich zu behaupten. 

Immer noch sind es die drei klassischen Wege, die zum Erfolg führen: töten, lieben, ficken. – Die Gästinnen im Hotel tragen dieses Erfolgsrezept ungeniert zur Schau.
Marie hat einen Blick für diese Frauen entwickelt, die im erweiterten Sinn ihren ausgestopften Tieren ähneln. Es gilt, einem toten Lebewesen einen steifen Gestus einzuhauchen, damit es weiter existieren kann.

Mit Alkohol geht die Arbeit zu Ende. Die ÖBB-Frau übernimmt die Endfiguration, weil Marie kurz ein paar Aussetzer hat. Um Mitternacht soll das Tier als Geschenk übergeben werden, Marie wundert sich noch, dass der Hund seltsame Geräusche wie von einem Wecker von sich gibt. Butz hat wohl eine Bombe eingebaut. Egal. Es kommt zur Übergabe, das Geburtstagskind freut sich, und dann fliegt alles in die Luft.

Im Kapitel Null stehen Butz und Marie am Schwarzsee und erfreuen sich an der Apokalypse, die sich trefflich an das Gebirge schmiegt, zumal tatsächlich oben der Berg tanzt wie bei einer vulkanischen Befreiung.

Elisabeth R. Hager erzählt entfesselt, zumindest für eine Romanlänge wissen die Heldinnen in Randlage, wie es um sie steht. Die Kunst des Ausstopfens versteht nur jemand, der dabei das bloße Handwerk hinter sich lässt. 

Eine apokalyptische Sprengung der Touristenwelt ergibt nur Sinn, wenn man deren Selbstinszenierung als Endlosparty verstanden hat. Ein bemerkenswerter Roman, dessen Motiv der Präparation inspirierend ist für die Beurteilung jenes Ausnahmezustands, den ausgewanderte Kids erleben, wenn sie kurz einmal im Heimatdorf vorbeischauen.

Elisabeth R. Hager: Der tanzende Berg. Roman.
Stuttgart: Klett-Cotta 2022. 255 Seiten. EUR 23,80. ISBN 978-3-608-98488-0.
Elisabeth R. Hager, geb. 1981 in St. Johann in Tirol, lebt in Berlin.

PS:
Elisabeth R. Hager wird ihr Werk bei den 21. Internationalen Literaturtagen Sprachsalz vom 8. bis 10. September 2023 in Hall in Tirol vorstellen.
Die Literaturtage haben wie jedes Jahr renommierte Autorinnen und Autoren, oft abseits des Mainstreams, eingeladen, um ihren Geschichten am Puls der Zeit eine Bühne zu bieten.
Nähere Informationen:
https://www.sprachsalz.com

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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