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Helmuth Schönauer bespricht:
Markus Köhle
Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts.
Roman

Markus Köhle hat die Fähigkeit, Literaturtheorie als Unterhaltung auszugeben, indem er große Thesen auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft. Und er scheut sich auch nicht, die sogenannte Tagesverfassung als größtes denkbares Korrektiv für alle kulturellen Unternehmungen anzusprechen.

Für die beiden Schlüsselbegriffe Unterhaltung und Tagesverfassung gibt es keinen besseren Nährboden als den Poetry Slam. Diesen hat er quasi im Alleingang in Österreich eingeführt und hält ihn durch permanentes Nachjustieren auch nach zwanzig Jahren noch ajour.

Die Elemente mündlich, mobil, irritative Assoziation, Abschweifung und Durchstreifung bilden daher das tragende Gerüst für einen Roman, den man angelehnt am Begriff Roadmovie als ÖBB-Movie, Railjet-Saga oder auch Qualtingerischen Bundesbahnblues bezeichnen könnte.

Der Held Lukas sitzt neun Kapitel lang in irgendeinem Zug und empfängt auf jeder Tour neue Sitznachbarn, die ihm mit Welt- und Allerweltsgeschichten die Bude im Hirn einrennen.

Denn eigentlich arbeitet er als Texter am großen Projekt Lexikon verrückter Österreich-Orte, und da ist er ausgebucht, denn jeder Ort wird verrückt, sobald man über ihn nachzudenken beginnt. Ein Auszug dieser Verwortung Österreichs ist im Anhang angeheftet und stellt eine Art Ösi-Pedia dar, denn die Orte sind ordentlich mit Sub-Kultur, Ironie, Vertuschungsstrategie und purer Illumination beim Genuss des Lebens unterlegt.

Der Kern-Roman ist unter zwei Schaubildern griffig subsumiert. Wie bei Karl-May-Abenteuern sind auf der vorderen Karte neun Reiserouten im Railjet skizziert, sodass eine Art Rail-Netz über Österreich gelegt ist, mit seltsamen Endstationen. Pöls in der Steiermark etwa oder Virgen in der Venedigergruppe.

Auf der hinteren Landkarte ist nichts zu sehen, Österreich als weißer Fleck, wie wir ihn gerne über Schmach, Geschichte und Staatsverfehlungen legen wollen, wenn wir ein Sonntagsgefühl brauchen.

Aber dann tun sich klein die zehn Höhepunkte Österreichs hervor: Die zehn höchsten Berge Österreichs sind nämlich vom Weltraum aus gesehen nur zehn kleine Einstiche auf dem Display.

Der Held Lukas ist vor Jahren aus Nassereith ausgewandert und lebt als Sprachanwender zwischen den Kulturen und Literaturen, die er regelmäßig mit Forschungsstipendien und Projektreisen besucht. Dabei läuft nicht immer alles rund. In Tiflis beispielsweise kommt er kaum aus dem Hotel hinaus, weil das Wetter so mies ist, das können auch die ausgesprochen schönen Schriftzeichen des Georgischen nicht ungeschehen machen.

Der größte Nutzen solcher Reisen besteht freilich darin, dass man immer genug Stoff zum Reden hat, wenn sich im Speisewagen jemand an den Tisch setzt. Von Georgien soll man unbedingt mitnehmen, dass dort die Wasserläufe seitenverkehrt angeschlossen sind: Das Warme kommt rechts.

Der Railjet erweist sich als geduldiges Speichermedium für Gespräche, er ist Teil der großen Vernetzung. Wenn man eine Garnitur besteigt, besteigt man einen großen Konzertsaal, in dessen Kulturgewölbe die Gespräche als kleine Musikstücke von der Decke hängen.

Je länger die Reisen dauern, umso vertrauter werden die Sprechenden, sodass sie mit der Zeit sogar Intimes und Dörfliches zu erzählen wagen. Zudem kommt der Aha-Effekt, dass es sich letztlich um Stammgäste handelt, die immer wieder im Speisewagen auftauchen und oft das Gespräch dort fortsetzen, wo sie es bei der letzten Tour abgebrochen haben.

In Abenteuerromanen taucht oft die Fügung auf, dass sich das Netz zusammenzieht, manchmal wird auch eine Schlinge daraus, die sich um den Hals legt.

Lukas ergeht es ähnlich, je mehr er in der Sprachwelt unterwegs ist, umso mehr zieht es ihn letztlich in sein Heimatdorf Nassereith, das ihn mit allen Tricks zu einem Heimatbesuch animiert. Ihm wird der sogenannte Kranewitter-Preis versprochen, wenn er ein kleines Stück schreibt, das den Marktflecken als kulturell wertvollen Stützpunkt ausweist.

Franz Kranewitter, muss man wissen, ist ein seltenes Dichter-Beispiel, das über das Tiroler Dorf hinausgewirkt hat. Mittlerweile machen alle auf Kranewitter, die aus dem Dorf hinauswollen, und dessen Stück Die sieben Todsünden.

Lukas wird auf den letzten Reisen immer stiller, die Heimat steht bevor. Längst schon ist die Kindheit gut erzählbar aus seiner Erinnerung hochgestiegen, und sie glüht vor Abenteuern, wie sie nur einst haben geschehen können, als die Idylle noch nicht stillgelegt war. Das moderne Dorf unterscheidet sich in nichts von der Welt, alles ist Internet. (204)

Der Showdown verläuft knapp an der Blamage vorbei. Als Lukas den vollen Gemeindesaal sieht, in welchem er geehrt und gefeiert werden soll, setzt wie einst in der Kindheit erbarmungslos Nasenbluten ein. Von der Erinnerung blutig geschlagen betritt er die Bühne, und alles wird gut. Er erzählt nämlich, wie Die sieben Todsünden den modernen Literaturbetrieb kaputt machen.

Markus Köhles Roman ist eine ironische Studie über den Literaturbetrieb, über die Heimkehr eines ausgewanderten Dorfkindes und über die kulturelle Globalisierung, worin es Ortsschilder nur mehr in der Erinnerung gibt.

Für sogenannte tirolpatriotische Leser tut sich mit dem Motiv des Dorfheimkehrers eine Brücke auf zu Norbert Gstrein (Vier Tage, drei Nächte), dessen Held ins väterliche Hotel im Ötztal zurückfindet, und zu Robert Prosser (Verschwinden in Lawinen), der nach ausführlichen Kaukasus-Reisen in Alpbach nachschaut, was der Fremdenverkehr inzwischen mit seinem Kindheitsdorf gemacht hat.

Im Anhang sind allerhand Übungen vorgeschlagen, wie man mit Österreich umgehen soll, falls es einem gelingt, das Dorf zu verlassen.

Österreich ist ein Topfen | Österreich ist Bratfett | Österreich ist eine Extrawurst. 

Markus Köhle: Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts. Roman.
Wien: Sonderzahl 2023. 247 Seiten. EUR 25,-. ISBN 978-3-85449-617-5.
Markus Köhle, geb. 1975 in Nassereith, lebt in Wien.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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