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Helmuth Schönauer bespricht:
Sepp Mall
Ein Hund kam in die Küche
Roman

Bald werden wir wandern! – Ein Kind deutet die brutale Sprache der Erwachsenen immer so, dass es sich noch aushalten lässt. Der brachiale Begriff vom Auswandern wird für einen Augenblick gemildert, bis er vielleicht wieder von selbst verschwindet.

Sepp Mall vergrößert den Blickwinkel auf die Option der Südtiroler, indem er den Stoff für diesen historischen Roman auf ein Kammerstück herunterbricht. Anhand einer Kleinfamilie, die sich 1942 für das Weggehen aus Südtirol entschlossen hat, zeigt sich, wie etwas unten ankommt, was oben entschieden wird. 

Verschärft wird diese intim-brutale Sicht noch durch einen elfjährigen Ich-Erzähler, der die Ereignisse nehmen muss, wie sie chronologisch kommen.

Vater, Mutter, der durch einen Geburtsschaden gehandicapte Hanno und der Erzähler Ludi kratzen ihr karges Eigentum zusammen, um zu wandern, wie es Hanno nennt. Der elfjährige Ich-Erzähler Ludi verabschiedet sich von seiner Kindheitsfreundin Kathi, die mit ihrer Familie ebenfalls auswandern wird. In der Melancholie des Abschiednehmens treffen sie auf ein totes Tier. In der Folge wird die Metapher vom Menschen als Kadaver in der Geschichte eine stete Begleiterin sein.

Erste Station ist Innsbruck, das aus lauter Ämtern und Fahnen besteht. Die Menschen gehen im Paradeschritt. Der Erzähler glaubt, dass man sich in einer Stadt immer so verhalten müsse und trainiert am Gang des Klinikums den Exerzierschritt, damit er damit gut durch die Stadt kommt. 

In der Klinik wird der behinderte Hanno untersucht und muss sofort in ein Heim. Er wird im Josefsheim außerhalb der Stadt abgegeben. Es gibt keine Verabschiedung, es gibt nämlich keine Wörter für Abschied. (7)

Später ziehen Vater, Mutter und Erzähler nach Oberösterreich. Vater kommt an die Front, Mutter arbeitet untertänigst, der Bub freundet sich mit einem Einheimischen an. In der Hauptsache spielen sie an der Donau, wo immer wieder tote Tiere angespült werden. Und die Menschen reden so, als ob in Wirklichkeit sie selbst vom Tod heimgeholt würden.

Eine amtliche Nachricht kommt aus Kaufbeuren, wohin Hanno vom Josefsheim gebracht worden war: Anton Gruber ist an einer Lungenentzündung gestorben. (51) Weil er seinen eigenen Namen nur als A-O aussprechen konnte, hat man ihn liebevoll Hanno genannt.

Obwohl er für tot erklärt ist, lebt er allerdings bis Kriegsende weiter. Jeden Tag besucht er den Bruder als Geist und hilft ihm beim Einschlafen. Wie bei einem Ruderboot sei er der Steuermann, sagt er im Halbtraum, er wisse als einziger, wo es lang geht, denn die Ruderer sitzen alle entgegen der Fahrtrichtung.

Vom Vater ist nichts zu lesen, keine Feldpost aus dem Osten, dafür kommen immer wieder Flüchtende, Schweden-Deutsche oder so ähnlich, sie haben einen Hund dabei, der auf der Flucht nichts verloren haben sollte. Der Hund wird umgebracht, und jemand singt das verrückte Lied vom Hund kam in die Küche.

Diese Endlosschleife, wo ein Hund erschlagen wird, einen Grabstein kriegt, auf dem geschrieben steht, dass ein Hund erschlagen wird und so weiter, dieses Lied wird immer heftiger für die Hinterbliebenen gesungen werden, die auf der Suche nach einer Unterkunft umkommen. Die Geschichte schreibt deren Schicksal als Endlosschleife in die Geschichtsbücher.

Das Wort Kriegsende bedeutet für die meisten, dass sie es jetzt amtlich haben, dass sie entwurzelt sind. 

Vater ist noch immer verschwunden, Mutter und Sohn siedeln an der Grenze zu Südtirol, um wenigstens hinüberschauen zu können, ins verheißene Land. Da sie keine Staatsbürgerschaft haben, müssen sie einwandern ins eigene Land durch illegalen Grenzübertritt.

Mutter arbeitet für ein paar Kartoffeln bei einem Bauern, Ludi wundert sich, dass Hanno nicht mitgekommen ist und tot zurückbleibt im Krieg. Vater taucht auf, es ist ihm gelungen, sich nach Meran durchzuschlagen. Er ist völlig verloren und betrinkt sich haltlos, niemand weiß, für wie lange.

Inzwischen hat Mutter eine Gedenktafel für Hanno anfertigen lassen, das A vom Anton ist etwas verrutscht, aber es macht nichts, denn er hat seinen Namen ohnehin nicht aussprechen können. Wenigstens einen Friedhof haben sie jetzt. Da können sie wie im Endloslied aufschreiben, was ihnen widerfahren ist.

Sepp Mall ist ein Meisterkomponist für jene feinen Klänge, die das Unmenschliche gerade noch in Worte fassen, damit man es aushält. Für diesen Erzählton ist der Kniff zuständig, einen Elfjährigen erzählen zu lassen. Die Sprache ist schon voll entwickelt, könnte man meinen, aber sie lässt sich noch nicht vollkommen anwenden. Denn der Elfjährige hat nur die Chronik der Geschichte am eigenen Leib erfahren, nicht aber die Logik, verschiedene Sachen miteinander zu verknüpfen. 

So reagiert dieses Erzähl-Kind am Anfang der Pubertät vielleicht wie alle jene Erwachsenen, welche die große Geschichte als Kinderspiel begreifen mit Fahnen und Schritten, um dann mit kümmerlichen Begriffen dem Unsagbaren gegenüber zu stehen. 

Dieses Bedrückende lässt sich vielleicht als Lied summen mit den Worten: Im Feld gefallen, wir müssen wandern, ein Hund kam in die Küche.

Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche. Roman.
Graz: Leykam 2023. 192 Seiten. EUR 24,50. ISBN 978-3-7011-8286-2.
Sepp Mall, geb. 1955 in Graun (Südtirol), lebt in Meran.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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