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Helmuth Schönauer
Leerstelle „Oradour" in Schwaz
Stichpunkt

1.
Wenn etwas Unbehagen verursacht und man nicht weiterweiß, kommt gleich einmal jemand daher und sagt: Das müsst ihr an der Schule unterrichten!

Wie erfolgreich diese Verlagerung aus der Wirklichkeit in ein didaktisches Paralleluniversum ist, zeigt sich derzeit in Bayern, wo dem Vizeministerpräsidenten vorgehalten wird, als Sechzehnjähriger ein Nazi-Pamphlet im Schulranzen durch die Gegend getragen zu haben. Er freilich sagt, er habe das Thema schon in der Schule perfekt aufgearbeitet, damit er sich Jahrzehnte später nicht mehr daran erinnern muss.

Manche sagen, in der Schule gehe es zu wie in der Komödie Men in Black, in der die Agenten mit einem Blitz aus ihrem Kugelschreiber die Erinnerung löschen. Auch die Kids in der Schule schauen der Lehrperson in ihren Kugelschreiber-Blitz und haben nach Zündung des Leuchtstoffs das Thema ein Leben lang vergessen.

So gesehen ist jede Gesellschaft durchsetzt mit Leerstellen, entweder weil jemand das Bewusstsein ausgeknipst hat, oder weil sich niemand mehr als Zeitzeuge an etwas erinnern kann.

2.
In dieser Lage ist es Aufgabe der Kunst, mit den Mitteln des Archivs und der politischen Bildung verdrängten Stoff wieder ans Tageslicht zu bringen und öffentlich darüber zu reden.

In der großen Herbstausstellung des Ferdinandeums geht es darum, Spuren des Lagers Oradour in Schwaz zu sichten und lege artis mit der Erinnerungskultur der Gegenwart in Verbindung zu bringen.

Manche fügen das Wort ehemalig hinzu, wenn sie vom Zwangsarbeiterlager und Entnazifizierungslager sprechen, aus Angst, es könnte neben dem ehemaligen auch ein gegenwärtiges geben. Viele sprechen aus dieser Angst, dass es noch nicht vorbei ist, auch vom ehemaligen Jugoslawien oder der ehemaligen Monarchie, als gäbe es diese Gebilde noch getarnt in der Gegenwart.

Die Erinnerungsaktion wird deshalb ansprechend Memories of Memories genannt. 7.9.2023 – 28.1.2024

3.
In Vorgesprächen zur Ausstellung wurde öfter gerätselt, warum vom Lager Oradour in Schwaz außerhalb der unmittelbaren Umgebung fast nichts im öffentlichen Gedächtnis herumgeistert.

Eine Erklärung verweist auf die übliche Erinnerungskultur, die an Lagern an konkreten geographischen Orten festgemacht ist. Mauthausen, Dachau, Ebensee, die Orte bemühen sich seit Jahrzehnten, den Namen nicht für den Tourismus zu verunreinigen. Gottseidank vergeblich. Mauthausen ist eine granitene Erinnerung, wie die darin in den Fels gehauene Todesstiege.

Das Lager Schwaz hingegen wurde bei Kriegsende von den Franzosen übernommen und zu einem Entnazifizierungslager umfunktioniert. Dabei gab man ihm den Namen Oradour, benannt nach dem Ort Oradour-sur-Glane, worin die Nazis am 10. Juni 1944 ein Massaker verübt haben.

Offensichtlich ist den Franzosen die Entnazifizierung so gut gelungen, dass sie nicht nur den Ungeist aus den ehemaligen Nazis getrieben haben, sondern auch das Gedächtnis an das Straflager Schwaz.

Oradour sei vielleicht ein Parfum, eine Süßigkeit, etwas Bewundernswertes, sagen die Befragten, die nie im Traum darauf kämen, dass hinter diesem Begriff ein Massaker steht.

Das alles kann man nicht in der Schule lernen, sondern im Ferdinandeum.
Wir sollten diese Bildungseinrichtung mindestens so innig mit Ressourcen ausstatten, wie wir es mit den Schulen tun, worin unsere Liebsten zum Vergessen unterrichtet werden.

Informationen zur Ausstellung: https://www.tiroler-landesmuseen.at/ausstellung/memories-of-memories/

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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