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Helmuth Schönauer
Großvater erzählt vom Sex.
Stichpunkt

Wir sind eine kleine Gruppe von Germanisten, die sich weigert zu gendern. Aus diesem Grund haben wir einen Therapie-Cluster gegründet, wobei wir regelmäßig ins Altersheim gehen, um den Insassen etwas vorzusprechen.

In der Praxis schaut das dann so aus, dass einige von uns am Nachmittag in einem städtischen Wohnheim östlich von Innsbruck eine Therapie anbieten, wie unser Auftreten allgemein bezeichnet wird, um am Abend wieder im westlich gelegenen einzusitzen, wo wir unsere Alters- und Sterbeunterkunft aufgeschlagen haben.

Wenn wir von unserem aufregenden Leben erzählen, nehmen wir natürlich nur den aktiven Teil. Darin gleichen wir echten Schriftstellern, die ja auch nur von gelungenen Liebschaften berichten, aber nie darüber, wie sie nach einem Beziehungsabbruch neben den Bildschirm des Schreibgerätes masturbieren müssen.

Also: Die Patienten im östlichen Wohnheim erwarten uns sehnsüchtig und erzählen von ihrem Leben. Wir aus dem Westen kommen nicht zu Wort und können daher unseren Ekel über das Gendern nicht zum Einsatz bringen. Macht aber nichts, denn die Alten gendern ebenfalls nicht, sodass es egal ist. Hauptsache, es wird etwas gesprochen, bei dem keine Sex-Gaps, Sternchen oder Doppelpunkte vorkommen.

Da wir mehrere sind, die Alten aber als Einzelpersonen erscheinen, können wir uns ablösen beim Anhören ihrer Geschichten, während sie immer von vorne erzählen müssen, als ob sie uns das erste Mal sehen würden.

Ein Spezialist in dieser Hinsicht ist einer, den wir Großvater nennen. Er spricht sehr schülerhaft und erzählt nach der Begrüßung immer, dass sein großes Vorbild Adalbert Stifter ist. Dennoch redet er am liebsten von Sex, obwohl darüber Adalbert Stifter fast nichts gesagt hat.

Wir müssen uns seine Erzählung freilich erarbeiten, indem wir die richtige Eingangsfrage stellen. Sie lautet: Großvater, wie war das früher mit dem Sex?

Da wird Großvater steif wie ein Stück Literatur und spricht von der Gliederung. Sex sei Gliederung ohne Inhalt. Zum Beispiel sagt er im Tonfall eines Archivars:

Mein Vater ist mit seinen Gelüsten in die Rezession gefallen, es gab so wenig zu essen, dass man die Organe nur notdürftig mit Nährstoffen versorgen konnte. Die Genitalien hat man wie einen Ofen kurz hochgeheizt zu Weihnachten und das Jahr über wieder hängen und trocknen lassen. Beide Elternteile hatten nichts vom Sex, wie hätten sie sonst sagen können, dass er maßlos überschätzt wird. In einer Ekelpause haben sie mich gezeugt und dann Tuchent drüber!

Ich selbst habe mir den Sex in Büchern angelesen, weshalb ich beim Lesen ständig eine Erektion bekomme. Selbst die experimentellen Sprachexkurse treiben sie aus dem Zwickel zwischen den Beinen, sodass ich es mir angewöhnt habe, sie als Ständer für das Buch zu verwenden.

Ja und jetzt bin ich in der Altersanlage und alle sagen Großvater zu mir, dabei habe ich keine Nachkommen und trage den Titel als Plagiat, wie die Plagiatsforscher mir mehrfach bestätigt haben, nachdem sie eine Software über mein stillgelegtes Genital haben laufen lassen.

An dieser Stelle schieben wir den Großvater meist in eine andere Position, sodass er ins Freie schauen kann, hinaus zu den Vögeln.

Prompt hat er Adalbert Stifter als Vorbild vergessen und zitiert dafür eine Zeile des berühmten slowenischen Beatniks Tomaž Šalamun:

Wenn ich mir mit beiden / Handflächen / übers Gesicht / streiche, /nenne ich das / Flurbereinigung.
(Steine aus dem Himmel, S. 211)

Es dauert nicht lange, bis er etwas über die Vögel sagt, so wie er eben noch etwas über den Sex gesagt hat.

In jedem Gedicht steckt ein Vogel, musst du wissen, ich schreibe mir immer auf, ob ich heute schon einen Vogel gesehen habe und wann. Das naturhistorische Museum hat übrigens dieser Tage aus Großbritannien einen Container einer aufgelassenen Vogelsammlung erhalten. Darin waren 19.000 Balge gelagert, die nun alle inventarisiert und analysiert werden.

Eines lässt sich schon jetzt sagen: die Flügelspannweite der gegenwärtigen Vögel ist kürzer geworden, weil sie nicht mehr so weit fliegen müssen. Vielleicht ist das mit den Männern ähnlich, ihre Samenqualität ist schlechter geworden, seit sie nicht mehr weite Strecken zu Fuß hinlegen müssen, wenn sie fensterln gehen. Ach ja, danke, dass Sie mich zum Fenster geschoben haben, das ist wie Sex.

Der Großvater spricht hell und dunkel zugleich. Er ist jetzt in einer Phase, in der die verschiedenen Lebensabschnitte darum ringen, welcher als erster vergessen wird.

Wie sehr es in ihm ringt, sieht man als Germanist daran, dass er sich immer wieder mit beiden Händen über das Gesicht fährt, um eine Flurbereinigung zu machen, wie sein Idol Tomaž Šalamun (1941-2014) es ausdrückt.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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