Helmuth Schönauer
Balken im Auge
Stichpunkt

Die Pointe von der Geschichte gleich vorweggenommen: Der biblische Satz vom Splitter im Auge des anderen und dem Balken bei sich selbst ist unabhängig von Gott beunruhigend und aufwühlend.

Im Zeitalter der Digitalisierung saust nämlich die berühmte Sehstörung am liebsten in Gestalt eines statistischen Balkens von rechts in die Sehfläche und schattet auf dem Display im Aug-Inneren so ziemlich einiges ab.

Beim Aufwachen mit einer Sehstörung erlebt der bislang gesunde Innsbrucker eine Überraschung. Man kann nicht einfach zum Augenarzt gehen, im Sommer schon gar nicht, denn die eine Hälfte ist auf Urlaub und die andere nimmt keine frischen Patienten mehr.

Tatsächlich ist man ein frischer Patient, wenn man im Alter von siebzig mindestens drei Augenärzte bereits biologisch überlebt hat. Eine Wahlärztin ist trotz ihres bereits gepackten Urlaubskoffers die letzte Rettung. Sie schiebt einen Nottermin ein und ist dennoch korrekt und besonnen. – Vermutlich soll man lasern, meint sie.

Als Patient empfindest du anschließend die Laserung an der Augenambulanz der Uniklinik als äußerst hilfreich, zumal sie schmerzfrei ist und gut kommentiert wird.

Die Uni-Ärztin gibt dem Bibliothekar eine wirkliche Lebensweisheit mit.  Jetzt eine Zeitlang nichts lesen, denn das macht das Auge verrückt, wenn es in jeder Sekunde von links nach rechts rasen muss. Hingegen ist Fernsehen auf nicht allzu großen Geräten o.k., da bleibt das Auge ruhig, bis der Patient eingeschlafen ist.

Solcherart stimuliert, beginnt der Patient sofort mit der Reha. Er räumt alles weg, was nach Buchstaben aussieht, verwendet am Abend kurz das Fernsehgerät, um in den Schlaf zu geraten, und ist tagsüber in der frischen Luft und schaut und schaut.

Die Natur ist wirklich ein Medikament, sofern man noch ein paar Happen davon erwischt. Selbst die Sträucher, die um die Liegefläche auf der Veranda gepflanzt sind, sind ein Spielfilm, der dreimal täglich den Hintergrund wechselt. Jeder einzelne Vogel wird wahrgenommen und so weiter!


Clemens Brentano, Rheinmärchen (1810)

Mich aber lehrst du singen:
Wenn dich mein Aug ersieht,
Ein freudeselig Klingen
Mir durch den Busen zieht;
Treib fromm mir meine Mühle,
Jetzt scheid ich in der Kühle
Und schlummre ein.

Der Zustand der Augen-Reha ist insofern ein angenehmer, als man tatsächlich sieht, wie es den Augen wieder besser geht. Irgendwann wird man das wieder aufschreiben können, was man sieht. Aber ob es dann noch notwendig sein wird?

Der biblische Spruch jedenfalls hat für Glossisten eine große Wahrheit auf Lager. Wenn du selbst den Balken im Auge hast, interessieren dich die Splitter rundum bei den anderen aber schon überhaupt nicht!

Nach vier Wochen Lektüre-Enthaltsamkeit ist man geläutert für das Lesen. Das Sommerloch dauert mittlerweile zwölf Monate am Stück, so dass man vermutlich im Herbst gar nicht mehr mit dem alltäglichen Lesen weitermachen wird. Und beim Schreiben tut sich auch der Verdacht auf, dass vielleicht schon alles gesagt ist.

Vielleicht sollte man wieder an unser Motto denken, mit dem wir seinerzeit als romantische Bibliothekare ausgebildet worden sind: 

Lesen und Schreiben sind Gewürze. Damit man sie schmeckt, müsst ihr zuerst den Brei des Lebens kochen!


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    schön, dass du uns nun wieder durch deine rezensionen oder glossen erfreuen oder verärgern kannst, lieber helmuth. also bitte bleib uns in aller sehschärfe erhalten.

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