Helmuth Schönauer bespricht
für Buch aus Tirol:
Reinhard Margreiter
Wohnen im Zeitalter der Mobilität
Ein philosophischer Essay

Die Wohnung ist nach dem Blastoderm und der Kleidung unsere dritte Haut, in der wir leben. Die vierte wäre das politische Gemeinwesen. Anhand dieser vier Häute können somit alle Probleme des adulten Menschen besprochen und fallweise gelöst werden.

Das Wohnen an sich ist zwar seit Jahrhunderten jenes Thema, das dem Denken und Philosophieren eine weite Bühne bietet, man denke nur an den berühmten Heideggersatz „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ Im gegenwärtigen Diskurs freilich handelt das Wohnen vom Schaffen von Wohnraum, Materialisation von Kapital und einem vorläufigen Endzustand einer Gesellschaft, die in den Segmenten Tourismus und Migration ständig unterwegs ist.

Reinhard Margreiter streift mit seinem philosophischen Essay Wohnen im Zeitalter der Mobilität das Thema anhand des Begriffsschwerpunktes Medien und Medialität versus Wohnung und Wohnen. (14) Dabei werden beide Zustände angesprochen: die Wohnung als eine räumliche Institution, die letztendlich physisch geräumt werden kann, und das Wohnen als Zustand des Denkens.

Der Essay ist raffiniert dichotomisch angelegt. Im oberen Teil des Buches zieht er sich als Konglomerat voller Überraschungen durch die Seiten, hier kommt das assoziative Denken zum Zug, das durchaus auch Leser ohne philosophisches Studium erfreut. Der untere Teil ist mit Zitaten unterlegt und entspricht wissenschaftlichem Arbeiten.

Wohnen lässt sich also vulgär lesen, wie ja auch meist vulgär gewohnt wird, und professionell, wie ja auch viele Professionen im wirtschaftlichen Segment des Wohnens stecken.

An mehreren Orten stellt der Autor Gliederungen auf, die dem Phänomen unter dem Eindruck strenger Ordnung ein besonders Rückgrat verleihen.

So werden etwa die vier Hauptzustände des Wohnens eingeteilt in 1. Zustand / 2. Befindlichkeit / 3. Gestaltung / 4. Beziehungsgeschehen (11) Auf diesem Denkfundament lassen sich einem Brettspiel ähnlich die intelligentesten Spielzüge durchführen.

Nach einer anderen Einteilung, die auf dem Lesewissen beruht, werden dem Themenkomplex die wichtigsten Persönlichkeiten samt ihren Schlüsselwörtern zugewiesen.

So ist etwa Paul Virilio für die Beschleunigung zuständig, Martin Heidegger für sesshaftes Wohnen, Gilles Deleuze für Nomadentum und Peter Sloterdijk für die Sphären. Anhand dieser Schlüsselbegriffe wird das Wohnen aufgerollt und mit der jeweiligen Philosophie der Denker injiziert.

Besondere Aspekte ergeben sich aus dem Wohnen mit Tieren, Wohnen als Bühne, oder Wohnen als Korrespondenz.

Einen Schwerpunkt stellt die Medienphilosophie dar: denn in einer Mediengesellschaft ist alles abhängig von Schein und Sein, ob nun die Domain als Wohnung angesehen wird oder der Prospekt einer Anlegerwohnung für ein Investment ausschlaggebend ist.

Aus den Kapitelüberschriften entwachsen Assoziationsmöglichkeiten. So sind die Begriffe von Heimat, Heimweg oder Heim nur denkbar in einem Wohn-Kontext, der sich ständig verändert. Das Nomadentum versinkt in einer Bodenlosigkeit. Die Sphären des Wohnens haben vielleicht die digitale Wohnmaschine im Auge.

So nebenher verweilt der Essay ausgreifend in den Gebieten Architektur, Baustil, Materialkunde und Finanzwesen. Mit der Zeit wird klar, dass es sich beim Wohnen um einen beeindruckenden Überbegriff handelt, der durchaus imstande wäre, eine Epoche zu beschreiben.

Im Schlusskommentar verweist Reinhard Margreiter noch darauf, dass assoziieren nicht nur Erweiterung bedeutet, sondern auch Einschränkung. Er entschuldigt sich bei den Denkmeistern dafür, dass er sie durch Zitieren oft auf ein kleines Argument eingeengt hat, das zu vorschnellem Urteil geeignet ist.

Als Leser ist man von der Idee begeistert, die gesamte aktuell zur Diskussion stehende Philosophie auf einen Nenner zu bringen, indem von der Warte des Phänomens Wohnen aus alle Denkaufreger der letzten Jahrzehnte daraufhin abklappert werden, was sie wohl zu diesem scheinbar trivialen Thema zu sagen haben.

Reinhard Margreiter: Wohnen im Zeitalter der Mobilität. Ein philosophischer Essay.
Basel: Schwabe Verlag 2022. 208 Seiten. EUR 28,-. ISBN 978-3-7965-4633-4.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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