Helmuth Schönauer bespricht:
Minu Ghedina
Die Korrektur des Horizonts
Roman

Während der Ausbildungszeit als Kind gibt es immer einen besonderen Höhepunkt: Es handelt sich um jenen Tag, an dem das Kind merkt, dass es die Eindrücke von der Welt selbst bestimmen kann, indem es dorthin schaut, wo es etwas zu sehen gibt. Und gesteigert wird dieses Erlebnis durch die Erkenntnis, dass man sogar den Horizont verändern kann, wenn man beispielsweise am Augenlid zupft.

Minu Ghedina zeigt am Beispiel der introvertierten Ada, wie das Leben letztlich nichts anderes als eine Drehung um sich selbst ist, wobei sich nichts verändert.

Was nach Biographie, Schicksal und Evolution klingt, ist letzten Endes ein permanentes Zupfen am eigenen Augenlid. Die Wimpernkorrektur wird zur „Korrektur des Horizonts“.

Die berechtigte erste Frage des Kindes Ada lautet daher: „Wo gehen Blau und Rot hin, wenn man die Augen schließt?“ (14)

Ada wächst mit der familiären Zauberformel VMK auf: Vater-Mutter-Kind. Aber hinter dieser Floskel schaut die Welt ganz anders aus. Mutter ist weg, der Vater ist nicht der echte, und der falsche benimmt sich als Rüpel. Nur Großmutter ist herzlich, sie pflegt auch die gemeinsame Freundin: Die Nähmaschine.

Viel Zeit verbringt Ada am Rand dieser Nähmaschine und schaut zu, wie Kleider und Kostüme daraus hervorgehen. Als sie dann selbst an diese Wundermaschine darf, näht sie sich die Welt neu. Sie kann Landschaften, Geschichten und Floskeln nähen. Natürlich macht sie einen Zwischenbericht als Kind, ehe sie ins Erwachsenenalter eintreten wird.

„1. Ich werde nie wieder mit diesem Vater lernen | 2. Ich muss einen Plan aufstellen | 3. Kann ich Großmutter vertrauen | 4. Vater und Mutter haben nicht das Recht, sich in meine Erziehung einzumischen, sie werden aus der Grundversorgung eliminiert | 5. Ich will weder Mann noch Kinder. Ich werde Ornithologin.“ (65)

Selten ist das Ende der Kindheit so klar beschrieben, Ada hat die innere Welt zwar gut im Griff, aber draußen macht die Welt, was sie will.

Als Stoff-Künstlerin hat sie gelernt, ein eigenes Metermaß zu entwickeln, so werden beim Wachsen die Ärmellängen jedes Jahr länger, was die individuelle Größe recht gut beschreibt.

„Schönheit schaffen war ein Weg.“ (42) Wenn ein Näh-Stück besonders gelungen ist, verbreitet es eine innere Schönheit, vielleicht bricht genau da der Horizont auf. (56)

Aber hinter dem selbst geschaffenen Horizont sind die Dinge nicht so klar. Eine Klasse tiefer sitzt Anna, die ihre Halbschwester ist, was lange vertuscht wird. Überhaupt wird alles vertuscht, was mit Vater zusammenhängt, er hat mehrere Kinder in allen Erdteilen und beantragt beim Jugendamt jährlich das Erlassen der Alimente. Mutter will mit ihm wegziehen, aber er lässt auch sie im Stich. Sie stirbt wohl verbittert und enttäuscht, weil sie zu lange an die verlogene Formel von Vater-Mutter-Kind geglaubt hat.

Nach der Matura wird Ada Kostümbildnerin, geht nach Berlin und baut sich für sich selbst eine Karriere als Überlebenskünstlerin auf. Allmählich wird sie für Großprojekte herangezogen, als Höhepunkt empfindet sie eine Filmausstattung in Malaysia.

Künstlerische Arbeit besteht darin, die Grenzen des Sehfeldes zu erweitern. Dieses Programm ist langwierig und muss jeden Tag neu vermessen werden. Die Kunst der Kostüme-Kreation ist ein Kompromiss zwischen dem, was die anderen auf der Bühne sehen sollen, und dem, was das innere Auge der Künstlerin sieht.

Dieser Zusammenhang bedingt auch, dass der Roman „Die Korrektur des Horizonts“ so umfangreich sein muss, immerhin fünfhundert Seiten für ein Schicksal, das sich im Kreis dreht. Aber diese Lebens-Drehung fällt üppig aus, denn die Welt innerhalb des Horizonts ist für die Heldin größer als jene außerhalb.

Als Ada sich selbst mit der Kunst und ihrem Lebensprogramm versöhnt hat, probiert sie es noch einmal mit der eigenen Familie. In Hamburg ist eine jüngere Schwester aufgetaucht, die es nicht aushält, dass sie plötzlich ihren Vater teilen soll.

Ada zieht einen Schlussstrich, sie braucht diesen Vater nicht mehr, der sie ohnehin ein Leben lang verleugnet und ignoriert hat.

Die Hormone verklumpen sich und machen alle Planung zunichte. Ada wird schwanger, der Freund Thomas übt sich in großen Worten, als in New York die Twin-Towers einstürzen. Was für die Welt Nine-Eleven ist, wird für die Heldin das Kind.

Ein paar Seiten lang spricht sie vom Kind, das offensichtlich als Zeichen der verhassten Formel herumkrabbelt: Vater-Mutter-Kind. Eine Verhöhnung des eigenen Lebens.

Das Ende ist schlicht wie bei einem Bildungsroman, der schief gegangen ist.
Der Kindsvater verlässt das Hormon-und Harmonie-Dreieck, Ada setzt den Blick der Großmutter auf und näht eine Substitutionswelt: Das Kind muss es einmal besser machen!

Minu Ghedina erzählt vom weiten Horizont, der täglich korrigiert und wohl verschleiert werden muss. Der wahre Horizont liegt außerhalb der Stoffbahnen und trägt ein unsichtbares Kostüm.

Minu Ghedina: Die Korrektur des Horizonts. Roman.
Salzburg: Otto Müller 2022. 507 Seiten. EUR 28,-. ISBN 978-3-7013-1297-9.
Minu Ghedina, geb. 1959 in Klagenfurt, aufgewachsen in Innsbruck, lebt in Innsbruck.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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